Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Zu viel „Stress“: Wagenknecht hört auf
Die streitbare Fraktionsvorsitzende der Linken wird nicht mehr zur Wiederwahl antreten. Zuletzt war sie zwei Monate krank
BERLIN. Die Mail von Sahra Wagenknecht kommt am Montag, um 15.15 Uhr. Sie ist adressiert an die 69 Bundestagsabgeordneten der Linken und beginnt mit dem Satz: „Wie ihr wisst, musste ich knapp zwei Monate lang meine politische Arbeit krankheitsbedingt ruhen lassen.“Über die vielen Genesungswünsche habe sie sich gefreut, schreibt Wagenknecht. Inzwischen gehe es ihr wieder gut.
Dann kommt der Satz, der bei der Linken vieles, womöglich alles, verändern wird: „Allerdings hat mir die lange Krankheit, deren Auslöser in erster Linie Stress und Überlastung waren, Grenzen aufgezeigt, die ich in Zukunft nicht mehr überschreiten möchte.“Sie habe daher heute den Fraktionsvorstand darüber informiert, dass sie bei der in diesem Jahr anstehenden Neuwahl der Fraktionsspitze nicht erneut kandidieren werde.
„Um einen ordentlichen Übergang zu gewährleisten, werde ich meine Aufgaben als Fraktionsvorsitzende bis dahin wahrnehmen.“Sie bleibe selbstverständlich politisch aktiv, werde sich für soziale Ziele engagieren. Die Mail, die unserer Redaktion vorliegt, endet mit der bei der Linken üblichen Formulierung: „Mit solidarischen Grüßen.“
Der Großteil der Abgeordneten wurde von Wagenknechts Verzicht auf das Amt überrascht. Politische Vertraute versichern unserer Redaktion, die Fraktionschefin sei „kerngesund“, habe keine Schäden davongetragen. Die Fraktion leitet sie seit Oktober 2015 – zusammen mit Dietmar Bartsch. Sie hatten den langjährigen Vorsitzenden Gregor Gysi abgelöst.
Unklar ist jetzt, wer Wagenknecht nachfolgen wird. Und ob Bartsch noch einmal als Fraktionschef antritt. Denkbar ist, dass Katja Kipping sich um das Amt bewerben wird. Kipping gilt als Gegenspielerin von Wagenknecht und Bartsch. Ein Führungsduo Kipping/Bartsch gilt daher bei der Linken als so gut wie ausgeschlossen.
Erst am Wochenende war bekannt geworden, dass Wagenknecht sich aus der ersten Reihe der von ihr gegründeten linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“zurückzieht. „Aufstehen“hat die Linke im vergangenen Jahr ordentlich durcheinandergewirbelt. Der interne Machtkampf tobte so hart wie selten.
Viele Abgeordnete hielten es nicht für ausgeschlossen, dass Wagenknecht aus „Aufstehen“eine neue Partei formen wird – und damit eine Konkurrenz zur Linken. Die Sammlungsbewegung ist allerdings nie in Schwung gekommen, zu den Demonstrationen kamen nur wenige Menschen. Sozialdemokraten und Grüne, die Wagenknecht auch ansprechen wollte, spotteten über „Aufstehen“.
„Wie ihr wisst, musste ich meine politische Arbeit krankheitsbedingt ruhen lassen.“ Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken Vor 20 Jahren trat Oskar Lafontaine zurück
Der parteiinterne Streit war so heftig, dass Wagenknecht auf dem Parteitag der Linken in Leipzig im Sommer 2018 von Teilen der Delegierten ausgepfiffen wurde. Schon in den Jahren zuvor war sie immer wieder mit Äußerungen zur Flüchtlingsfrage in den eigenen Reihen angeeckt. Vor Weihnachten zog sie dann eine Gelbweste an und demonstrierte vor dem Kanzleramt, was auch in den Reihen der Linken für Verwunderung sorgte.
Wagenknecht gehört zu den schillerndsten Persönlichkeiten im sonst oft eher braven und farblosen Berliner Politikbetrieb. Sie ist mit Abstand die populärste Politikerin der Linken, Talkshow-Star und Bestsellerautorin („Reichtum ohne Gier“, „Freiheit statt Kapitalismus“). Auch optisch fällt sie auf: Ihre Kostüme sitzen perfekt, wirken altbacken und modisch zugleich. Ohne die Linken-Ikone in der ersten Reihe wird die Politik in Berlin mit Sicherheit ein bisschen langweiliger. Am Ende hat Wagenknecht ihre Kraft und ihre Fähigkeiten wohl überschätzt. Bei der Linken werden jetzt viele aufatmen. Womöglich wird es aber nicht lange dauern, bis in der chronisch streitlustigen Partei neue Konfliktlinien aufbrechen.
Ob Zufall oder nicht: Der 11. März ist ein historisches Datum – vor genau 20 Jahren trat Wagenknechts Mann, Oskar Lafontaine, als SPD-Vorsitzender, Finanzminister und Bundestagsabgeordneter zurück. Lafontaine hatte sich mit Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) überworfen. 2005 trat Lafontaine dann für die WASG und die PDS im Wahlkampf an – und schmiedete mit Gregor Gysi und Lothar Bisky Die Linke. Das veränderte das Parteiensystem in Deutschland, im linken Spektrum gab es eine Zersplitterung. Die Folge: Die SPD steckt seit der Wahl 2009 bei Ergebnissen zwischen 20 und 26 Prozent fest.
In den Reihen der Sozialdemokraten wird der Rücktritt Lafontaines und die Linke-Gründung bis heute als Verrat gesehen. Wenn Lafontaines Frau sich nun zurückzieht, wird eine rot-rot-grüne Koalition in der Tat ein bisschen weniger unwahrscheinlich.