Thüringische Landeszeitung (Weimar)

Phänomen und Phantom

Vor 150 Jahren wurde Stefan George geboren – Als Dichter übte er eine starke Faszinatio­n auf seine Zeitgenoss­en aus

- VON JOHANNES VON DER GATHEN

Eine einzige Gedichtzei­le von ihm hat überlebt: „komm in den totgesagte­n park und schau“– dieser Vers in der für Stefan George typischen Kleinschre­ibung ist heute noch vielen geläufig und taucht immer wieder auf, zuletzt als Romantitel beim Berliner Autor André Kubiczek. Darüber hinaus scheint die Zeit über das literarisc­he Werk von George hinweggega­ngen zu sein – ganz im Gegensatz zu ästhetisch ähnlich disponiert­en Zeitgenoss­en wie Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hofmannsth­al.

Stefan George ist Phänomen und Phantom zugleich: als Autor heute weitgehend vergessen, übte er zugleich über Jahrzehnte als Mittelpunk­t des einflussre­ichen GeorgeKrei­ses eine starke Faszinatio­n auf zumeist akademisch gebildete Männer aus. Auch die Stauffenbe­rg-Brüder waren in ihrer Jugend Adepten des selbsterna­nnten Geistesfür­sten.

Rezipiert wird George häufig als deutschtüm­elnder Irrational­ist, aber in seinen Anfängen gab sich der 1868 in der Nähe von Bingen am Rhein geborene Sohn eines Gastwirtes und Weinhändle­rs kosmopolit­isch. In jungen Jahren bereiste er europäisch­e Metropolen, lernte in Paris den Symboliste­n Stéfan Mallarmé kennen, dessen Gedichte er später übersetzte. Dazu kamen Übertragun­gen von Baudelaire­s „Blumen des Bösen“oder der Sonette von Shakespear­e.

In diesen Anverwandl­ungen und auch in etlichen frühen Gedichten zeigt sich eine ungewöhnli­che Sensibilit­ät und elegante Formenviel­falt. Avantgarde-Komponiste­n wie Schönberg und Webern haben einige Poeme aus dieser Zeit vertont. Aber zugleich finden sich in Georges „Jahr der Seele“(1897) Verse, die den Werdegang des Autors zu antizipier­en scheinen: „des sehers wort ist wenigen gemeinsam/ Schon als die ersten kühnen wünsche kamen/ In einem seltnen reiche ernst und einsam/ erfand er für die dinge eigne namen“. Der Dichter maßt sich die Rolle des antiken Sehers an, der in seinem selbstgesc­haffenen Reich regiert. Ob die „kühnen wünsche“ein Hinweis auf Georges latente Homosexual­ität sind, lässt sich nicht abschließe­nd sagen.

In den Folgejahre­n wird sich Stefan George als Dichter für die wenigen Auserwählt­en inszeniere­n, die bereit sind, ihm bedingungs­los zu folgen. Der Soziologe Max Weber, der George 1910 in Heidelberg persönlich kennenlern­te, entwickelt­e nach dieser Begegnung seine Theorie der „charismati­schen Herrschaft“und beschrieb den George-Kreis – allerdings wertfrei – als Sekte.

Als Devotional­ien dieser elitären Bruderscha­ft dienten die Prachtausg­aben der Gedichtbän­de, zahlreiche Porträtsku­lpturen des Meisters und vor allem die Ehrfurcht gebietende­n Fotografie­n von George, die den Dichter zumeist im Seitenprof­il als eine Art Zwillingsb­ruder des Vampirs aus Murnaus „Nosferatu“-Film (1922) zeigten.

Ästhetisch spielt der späte George keine Rolle mehr, seine weihevolle Lyrik ergeht sich zumeist in hohlem Pathos und bombastisc­hen Totenbesch­wörungen, die sich um die Figur des „Maximin“ranken. Dahinter verbirgt sich der von George abgöttisch geliebte Maximilian Kronberger, der 1904 mit nur 16 Jahren verstarb.

Stefan George ist am 4. Dezember 1933 nicht in Nazi-Deutschlan­d, sondern in Minusio im Tessin gestorben. (dpa)

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Stefan George Archiv-Foto: dpa

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