Thüringische Landeszeitung (Weimar)
Arme Bürger nehmen weniger Einfluss
Einkommensschwache Deutsche gehen seltener zur Wahl als Wohlhabende – Armutsbericht der Regierung warnt vor großer sozialer Kluft
Bestimmen arme Menschen die Politik in Deutschland weniger als Wohlhabende? Für Sozialministerin Andrea Nahles ist die Antwort klar: „Ihre Meinung wird seltener umgesetzt.“Es dürfe nicht sein, „dass Wählerstimmen je nach Einkommen mehr oder weniger wert sind“. Nach dem Willen der SPD-Ministerin sollte das auch im neuen Armutsbericht der Bundesregierung betont werden, doch das Kanzleramt sperrte sich. Beide Seiten einigten sich – auf eine abgeschwächte Version.
Der Satz, dass es in Deutschland „eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen“gebe, fehlt nun. Auch der Befund, dass politische Veränderungen wahrscheinlicher sind, wenn sie von einer großen Anzahl von Befragten mit höherem Einkommen unterstützt werden, ist gestrichen. Stattdessen wird nur das Wahlverhalten von einkommensschwachen Bürgern beschrieben: „Die politische Beteiligung bis hin zur Teilnahme an Wahlen ist bei Menschen mit geringem Einkommen deutlich geringer und hat in den vergangenen Jahrzehnten stärker abgenommen als bei Personen mit höherem Einkommen und der Mittelschicht“, so der Bericht. Für Nahles folgt daraus ein Teufelskreis: Viele arme Deutsche gehen nicht mehr zur Wahl, nehmen damit keinen Einfluss, fühlen sich nicht vertreten und gehen aus Protest beim nächsten Mal erst recht nicht mehr wählen. Niedrige Löhne und Demokratiemüdigkeit – für Nahles verstärkt sich beides gegenseitig.
Mit Blick auf die wirtschaftliche Gesamtlage klopft sich die Bundesregierung in ihrem 5. Armutsund Reichtumsbericht auf die Schulter: Die Arbeitslosenquote ist niedrig, der Mindestlohn wirkt, sogar die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zurückgegangen. Aber: „Wir sehen eine verfestigte Ungleichheit“, klagt Nahles. Im Bericht heißt es: „Die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung verfügen nur über rund ein Prozent des gesamten Nettovermögens, während die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte des gesamten Nettovermögens besitzen.“
Der Durchschnittslohn sei gestiegen, so Nahles, doch würden viele davon nicht profitieren: „Die unteren 40 Prozent der Beschäftigten haben 2015 real weniger verdient als Mitte der 90er Jahre.“Allein zwei Millionen Kinder seien zudem armutsgefährdet, weil kein Elternteil erwerbstätig ist oder der Alleinverdiener nur in Teilzeit arbeitet.