Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)
Dichtung und Wahrheit
Dieser Tage haben wir mal wieder mit einer Freundin reden können, der wir schon lange verbunden sind und die wir deshalb zu unserer „dienstälteste Freundin“ernannt haben.
Sie war gut drauf, was uns freute, denn das vergangene Jahr hatte sie ganz schön gebeutelt. Nein, nicht mit Corona, sondern wegen eines missglückten Wohnungswechsels, der sie in einem Behelfsquartier notlanden ließ, eng und bedrängt. Sie kam sich vor wie in einem Flüchtlingsheim, korrigierte sich aber sofort: de luxe, natürlich.
Dennoch weigerte sie sich, auszupacken, und „wohnte“zwischen Kisten und Kästen. Stuhl, Tisch, Teller und Tasse sollten genügen. Nur keine Gemütlichkeit!
Gemütlichkeit ist der Jogginganzug des Charakters: Man fügt sich in die Umstände. Unsere dienstälteste Freundin obsiegte und wurde belohnt, mit einer Wohnung – hell, freundlich, geräumig und doch bezahlbar.
Trautes Heim, Glück allein, jetzt räumt sie ein. Stück um Stück, alles will bedacht sein. Denn für uns Ältere ist das Einrichten einer Wohnung so etwas wie der Nachbau unseres Lebens. Das muss „stimmig“sein.
Und da bestimmen nicht wir, wo ein Buch, eine schönes Bild oder eine Plastik ihren Platz finden, sondern sie. Denn nicht wir besitzen die Dinge, sie besitzen uns. Wir dürfen sie nur benutzen – für eine Weile. Bücher sind dabei ein Kapitel für sich.
Parvenüs ordnen sie nach Umschlagfarbe, Pragmatiker nach dem Alphabet und Büchernarren halten in ihren Regalen ein Ordnungssystem, das nur sie selbst verstehen. Und das sich wie von selbst weiterentwickelt, weil irgendwann Bücher wichtig werden, die vorher eher beiseite standen.
Wie bei unserer dienstältesten Freundin, die jetzt beschloss, ihre Bibliothek mit den Anfängen der Menschheitsliteratur anzufangen, also mit dem Pen-club der alten Griechen, Homer und so. Doch, oh Bücherschreck, die Odyssee war weg! Verschollen im Meer der Kisten und Kartons wie Odysseus einst in der Ägäis.
Alarmiert eilten wir an unser Bücherregal, weil wir ja seit der Erfindung der unsichtbaren Bibliothek durch Terry Pratchett wissen, wie heikel das mit Büchern ist, sie halten zusammen. Was das eine weiß, wissen bald auch alle anderen.
Dennoch kaum zu glauben: Auch unsere Odyssee ist weg! So, das war’s, was wir hier sagen wollten: Dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unser Menschensinn sich träumen lässt. Der Melancholiker Hamlet hätte das wohl auch über Covid-19 raunen können.