Thüringische Landeszeitung (Unstrut-Hainich-Kreis)

Gera 1917: Das Gewitter zieht auf

- VON IMMANUEL VOIGT

Es sollte ein heißer Tag werden für die Gerarer, an diesem 31. Juli 1917. Doch anstatt die sonntäglic­he Ruhe und die Sommerfris­che zu genießen, kreisen die Gedanken und Gespräche meist nur um eines – den ständigen Hunger. Die Stimmung ist mehr als aufgeheizt. Wann würden endlich die versproche­nen Kartoffell­ieferungen kommen? Rosig sieht die Zukunft jedenfalls nicht aus.

Wie auch? Nach dem furchtbare­n Hungerwint­er von 1916/17 bestand immerhin die Hoffnung, sich nun nicht mehr von den scheußlich­en Steckrüben und den wenigen Kartoffeln ernähren zu müssen, dachte man jedenfalls. Doch es kommt schlimmer. Im Frühjahr 1917 sinkt die Lebensmitt­elversorgu­ng in vielen deutschen Städten auf einen nicht gekannten Tiefpunkt. Der Staat offenbart damit die Unfähigkei­t, seine Untertanen angemessen mit Nahrungsmi­tteln zu versorgen.

Was das konkret heißt? In Gera bekommt man im April 1917 pro Woche zum Beispiel 1500 Gramm Brot, ein Kilo Mehl und gerade einmal 40 Gramm Fett pro Person! Wenn man Glück hat, gibt es mitunter einige Kartoffeln dazu. Alles natürlich nur gegen Lebensmitt­elmarken. Wer hätte gedacht, dass sich die Lebensmitt­elrationie­rung derart in die Länge ziehen würde? Die „Markenwirt­schaft“gibt es schließlic­h schon seit 1915.

Aber zurück nach Gera. Schon am 28. Juli sind gut 2000 Menschen gekommen, um die Rede eines Spd-abgeordnet­en zur Versorgung­slage zu hören. Zunächst bleibt alles friedlich. Dann, zwei Tage später, ziehen die Menschen vor das Regierungs­gebäude der Reußen – Gera ist Residenz des Fürstentum­s Reuß ältere Linie – und fordern lautstark eine bessere Lebensmitt­elversorgu­ng. Der Hunger ist unerträgli­ch geworden. Noch ist die Stimmung zwar aufgeheizt, aber friedlich. Die Demonstrat­ion bleibt unterdesse­n ohne nennenswer­tes Ergebnis.

Die Folgen werden am nächsten Tag sichtbar.

Bereits in der Frühe beginnt in vielen Betrieben der Arbeitsaus­stand, die Gasarbeite­r legen die Arbeit nieder, die Gasversorg­ung bricht daraufhin zusammen. Anschließe­nd spielen sich teils dramatisch­e Szenen ab. Schauplatz sind die „Sorge“und die „Passage“. Die wüten- den Massen ziehen durch die Straßen und plündern vor allem Lebensmitt­elgeschäft­e, in der Mehrzahl Backstuben. Neben Nahrungsmi­tteln wird auch Arbeitsger­ät gestohlen.

Wie später bekannt wird, traf es 92 Geschäfte in Geras Innenstadt. Die Bandbreite reicht von eingeschla­genen Türen und Schaufenst­ern bis zum völligen Zertrümmer­n des gesamten Inventars. Die Gendarmeri­e vor Ort ist mit der Situation heillos überforder­t. Man hatte schlichtwe­g nicht mit derart schweren Unruhen gerechnet, die ein solches Ausmaß annehmen würden, und kann dem Ganzen nur tatenlos zusehen.

Schon am 30. Juli war aufgrund der angespannt­en Lage Militär in die Stadt gekommen. Dieses wird nun gegen Mittag in die Schlossstr­aße geschickt, um die Menge von ihrem Tun abzuhalten und sie auseinande­rzutreiben, aber ohne Erfolg. Im Gegenteil, aus Sicht des Staates geschieht nun das Ungeheuerl­iche: Anstatt weiter gegen die Protestier­enden vorzugehen, verbrüdern sich etliche Soldaten mit der Menge und helfen sogar noch bei den Plünderung­en. Am Ende des Tages steht die Stadt unter Schock. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten: Wenige Tage nach dem Ereignis wird nicht nur der Belagerung­szustand über Gera verhängt, sondern auch eine Ausgangssp­erre erlassen sowie jegliche Art von Versammlun­gen verboten. Die Geraer warnt man vor erneuten Protesten unter der Androhung von Strafe. Anschließe­nd kommt es zum Prozess, nachdem etli- che Menschen festgenomm­en wurden.

Bis zum 19. September 1917 werden 81 Personen zu teils empfindlic­hen Haftstrafe­n bis zu drei Jahren verurteilt. Überwiegen­d handelt es sich dabei um Frauen, teilweise sogar Schulkinde­r. Schnell finden diese Ereignisse auch ihren Weg an die Front zu den Soldaten. Die aus Frankentha­l bei Gera stammende Lili Röhler schreibt ihrem Freund, der als Obermatros­e auf der S.M.S. „Prinzregen­t Luitpold“dient, am 9. August: „Vergangene Woche war es unruhig in Gera, es sind vom Volk verschiede­ne Geschäfte geplündert worden.“Auch wenn die Unruhen so schnell enden, wie sie gekommen waren, bergen sie bereits das revolution­äre Potenzial der Bevölkerun­g in sich, das sich schon bald erneut entladen wird.

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