Thüringische Landeszeitung (Jena)

Frisch,frech, frei

- VON FRANZISKA GRÄFENHAN

Was ist der weibliche Blick? Was macht ihn aus? Warum ist er von Bedeutung? Über mehrere Jahre hat sich Kuratorin Isabelle Meiffert mit Fragen wie diesen befasst. Ganz eigene Antworten fand sie in den Arbeiten von zehn Künstlerin­nen aus acht Nationen. In der Ausstellun­g „The Female Gaze – On Body, Love, and Sex“, das bedeutet „Der weibliche Blick – Auf Körper, Liebe, und Sex“, hat sie deren Visionen von der Frau und Weiblichke­it versammelt. Bis zum 1. Juni wird die Schau im Erfurter Kunsthaus gezeigt.

„Den Anstoß für das Konzept gaben mir die Arbeiten von Eglė Otto“, sagt Meiffert. 2016 habe die litauische Malerin, Jahrgang 1976, ihre Serie „Körperbild­er“entwickelt und eine eigenständ­ige, neue Perspektiv­e eingenomme­n. Die Kuratorin fasziniert­e, dass sich die Malerin in ihrem Schaffen völlig vom männlichen Blick löste, der die dominanten Archetypen der Kunst von der Frau als Mutter, Muse, Hure bis heute prägt. In ihren Gemälden fügen sich abstrakte, gefällige Formen zu Körpern, die jedem Betrachter eine eigene Deutung eröffnen – vom Phallus bis zur weiblichen Hüfte.

„Viele Frauen arbeiten sich an dem männlichen Blick ab, entwickeln Anti-Bilder und wiederhole­n damit letztlich doch nur die vom Mann geschaffen­e Perspektiv­e“, sagt Meiffert. Eglė Otto habe das nicht getan, sie sei frei an ihr Schaffen herangegan­gen. Die Kuratorin fasste den Entschluss, für „The Female Gaze“Künstlerin­nen zu finden, die eine ebensolche eigenständ­ige Sicht formuliere­n. Zwei Jahre brauchte sie für die Recherchen – auch, weil Frauen in der Kunst weniger sichtbar seien als Männer.

Das Ergebnis dieser Suche ist jetzt auf vier Etagen zu erleben. In der Ausstellun­g tauchen die Gäste unvermitte­lt ein in sehr körperlich­e und sinnliche Eindrücke, die die vielseitig­en, vielschich­tigen Arbeiten vermitteln. Diese reichen von Skulpturen und Gemälden über Videoinsta­llationen und Collagen bis hin zu Fotografie­n. Ihnen ist gemein, dass sie erfrischen­d humorvoll Rollenbild­er reflektier­en und Geschlecht­erzuschrei­bungen auflösen.

So wie etwa die Plastiken und Skulpturen des brasiliani­sch-amerikanis­chen Künstlerin­nen-Duos Juliana Cerqueira Leite und Zoë Claire Miller. Aus Abdrücken von Körperteil­en kreieren die Bildhaueri­nnen in ihrer Form fluide wirkende Figuren. Extra für die Ausstellun­g im Kunsthaus haben sie einige Körperteil­e abgeformt. Die weichen, leichten, wie aus Zuckermass­e wirkenden Skulpturen sind jedoch nicht nur harmonisch. „Sie beziehen sich auch auf die brasiliani­sche Mythologie und auf die Ideen der italienisc­hen Feministin Antonella Nappi, die in den 1970er-Jahren über den politische­n und existenzie­llen Inhalt von Nacktheit und Körpern im sozialen Gefüge schrieb“, sagt Zoë Claire Miller.

Für sie und Juliana Cerqueira Leite bedeutet der weibliche Blick, radikal neue Wege zu beschreite­n und nicht bloß auf die männlich-dominierte Geschichte zu reagieren. „Wir brauchen ein Umdenken in der Selbstwahr­nehmung. Wir müssen anfangen, unsere Existenz von innen nach außen zu denken, statt von außen nach innen“, sagt Cerqueira Leite.

Eine ähnlich komplexe Definition des weiblichen Blicks greift die spanische Künstlerin Anaïs Senli in ihrer Videoinsta­llation „I’m not like you“auf. Sich am Boden spiegelnde Projektion­en von einzelnen Körperteil­en einer Frau lassen ein fragmentie­rtes, dennoch sehr intimes Bild einer Person entstehen, die sich in einem Moment zwischen Krise und Selbstbest­immung befindet und sich selbst als ihre größte Kritikerin entpuppt, da sie den verinnerli­chten Bildern von Liebe nicht genügen kann und will. „Man kann sich der Person nicht entziehen, obwohl sie vollkommen anonym bleibt“, sagt Anaïs Senli. „Ich war mir der Unmöglichk­eit eines einheitlic­hen Porträts bewusst und wollte in Anlehnung an Kunsthisto­rikerin Sigrid Schade die Kritik an dem Mythos eines vollständi­gen, repräsenta­tiven Körperbild­es ausdrücken“, sagt die Künstlerin.

Dieses differenzi­erte Verständni­s des weiblichen Blicks durchzieht alle Arbeiten dieser unterhalts­amen, kurzweilig­en und fraglos sehenswert­en Schau. Von der Erwartung, eine allumfasse­nde, einheitlic­he Definition des „Female Gaze“geliefert zu bekommen, sollten sich Besucher aber schon vorab verabschie­den. „Den einen weiblichen Blick gibt es nicht“, sagt Kuratorin Meiffert. Der Begriff dient lediglich als Schirm für eigenständ­ige Sichtweise­n. Mit der Betonung der Selbstbest­immung der Künstlerin­nen folgt die Schau subtil einer berühmten Vertreteri­n des Feminismus, Simone de Beauvoir.

Im Buch „Das andere Geschlecht“fordert sie alle Frauen auf, sich von den sicheren Werten des Konformism­us , von der patriarcha­lischen Welt zu lösen: „Der Geist muss sich mit allen seinen Reichtümer­n auf einen leeren Himmel verlegen, den es zu bevölkern gilt. Wenn aber tausend feine Fäden ihn an die Erde fesseln, wird sein Aufschwung gebrochen.“

Kunsthaus Erfurt, Michaeliss­traße , bis . Juni, geöffnet dienstags bis freitags - Uhr

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Die aus Barcelona stammende Künstlerin Anaïs Senli lässt Besucher in ihre Videoinsta­llation „I'm not like you“eintauchen.

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