Thüringische Landeszeitung (Gera)
Schwieriger Start im Doping-Prozess
Dem Hauptangeklagten droht mehrjährige Haftstrafe und Berufsverbot. Staatsanwaltschaft weist Vorwürfe zurück
Es ist ein winziger Moment. Mark S. kann sich das breite Grinsen nicht verkneifen und deutet mit einem kurz erhobenen Daumen seine Zustimmung an. Der Erfurter Arzt sitzt im Münchner Justizzentrum im Schwurgerichtssaal A101 neben drei weiteren Männern und einer Frau auf der Anklagebank. Auch nach 19 Monaten Untersuchungshaft strahlt er Selbstbewusstsein aus, dabei hat ein Oberstaatsanwalt ihm am Mittwochmittag vor der 2. Strafkammer am Landgericht gerade für rund 140 Dopingvergehen verantwortlich gemacht.
Doch nach der Mittagspause folgt die Stunde von Verteidiger Peter Helkenberg. Der Erfurter Anwalt vertritt Dirk Q., einen selbstständigen Bauunternehmer. Auch dieser soll sich an den verbotenen Dopingpraktiken beteiligt haben und sitzt nur wenige Wochen kürzer in Untersuchungshaft als der Hauptangeklagte.
Der Verteidiger fordert die Einstellung des Verfahrens wegen schwerwiegender Verstöße gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie er sagt. Das Verfahren werde nicht fair geführt, der Verteidigung immer wieder Unterlagen und Akten vorenthalten. Der Anwalt greift auch Kritik an der Anklage auf, spricht vom „Aufbauschen“, weil immer wieder auch Fälle des Abnehmens von Blut aufgelistet sind. Dabei seien diese nicht strafbar.
Massive Kritik an der Staatsanwaltschaft
Beim Wort Aufbauschen geht der Daumen von Mark S. kurz hoch. Die massiv vorgetragene Kritik des Anwalts am Vorgehen der Münchner Anti-Doping-Staatsanwaltschaft und am Gericht sagt dem Angeklagten sichtlich zu. Peter Helkenberg hat zahlreiche Details aus den ihm zur Verfügung stehenden Akten zusammengetragen, die aus seiner Sicht alle unstimmig sind.
Da sollen bei einer Vernehmung Fotos von Personen gezeigt worden sein, die offiziell noch gar nicht im Verfahren bekannt waren. Es soll ein Vermerk mit Bezug auf den Mitte Januar 2019 ausgestrahlten TVBeitrag zu Dopingpraktiken im Wintersport existieren, der bereits lange vor Veröffentlichung des Films geschrieben wurde. Dieser Beitrag vom 17. Januar 2019 mit dem Titel „Gier nach Gold“gilt als Auslöser der Münchner Ermittlungen.
Auch zweifelt der Anwalt die Zuständigkeit des Landgerichts München an. Die Angeklagten kämen alle aus Thüringen. 90 Prozent der angeklagten Straftaten seien im Ausland begangen worden. „Das müsse der Bundesgerichtshof entscheiden“, so der Verteidiger. Ausführlich trägt der Anwalt länger als eine Stunde Argumente und Details vor, warum in München nicht weiter verhandelt werden dürfe. Die Kammer lässt eine Entscheidung darüber am Mittwoch offen. Oberstaatsanwalt Kai Gräber weist die Vorwürfe des Verteidigers zurück.
Es geht in diesem Prozess um sehr viel mehr als ein bisschen Doping, das wird klar als die Vorsitzende Richterin, Marion Tischler, über ein Verständigungsgespräch von Anfang Juli informiert. Richter, Staatsanwaltschaft und Verteidiger haben sich über das Verfahren in München unterhalten. Zu einer Verständigung oder Absprachen sei es nicht gekommen, so das Gericht.
Trotzdem gibt es Orientierungen für die Verhandlung: Vier bis sechs Jahre Haft und Berufsverbot für den Hauptangeklagten sehen die Richter im Bereich des Möglichen für
Mark S.. Voraussetzung ist, er sagt konsequent und allumfassend aus. Die Vorstellung seiner Verteidiger soll zwischen dreieinhalb und viereinhalb Jahren Haft liegen, so das Gericht. Auch Dirk Q. könnte eine Haftstrafe von drei bis dreieinhalb Jahren drohen, wenn das Gericht zur Annahme kommen sollte, dass er nicht nur Gehilfe sondern Mittäter war. Zwei der anderen drei Angeklagten müssten mit Bewährungsstrafen rechnen. Der fünfte Angeklagte darf auf eine Geldstrafe hoffen. Doch bis zu den Urteilen sind vorerst noch 25 Verhandlungstage geplant.
Zum Prozessauftakt stellt sich Mark S. mit Händen in den Hosentaschen den Fotografen. Er verharrt zwischen seinen beiden Verteidigern. Anderen Angeklagten war das
Klicken der Fotoapparate kurz vor Verhandlungsbeginn deutlich unangenehmer, sie versteckten ihre Gesichter hinter einem Aktendeckel oder unter einer Kapuze.
Die Corona-Einschränkungen am Justizzentrum führten gleich zum Auftakt zu einer Kuriosität. Denn die 2. Strafkammer musste zwei Mal den Verhandlungssaal betreten. Das erste Mal präsentierten sich die Richter den Fotografen kurz darauf noch einmal den Fernsehkameras. Wegen des Mindestabstands durften nicht alle Foto- und Fernsehjournalisten gleichzeitig den Raum betreten. Anschließend wurde verhandelt. Allerdings vor deutlich weniger Zuschauern als üblich, die 100 Plätze durften auf der Tribüne nur sechs Journalisten und sieben Zuschauer einnehmen.