Thüringische Landeszeitung (Gera)
Das Tagebuch der Katastrophe
Schriftstellerin Fang Fang berichtete 60 Tage aus Wuhan. Nun gehen ihre Aufzeichnungen um die Welt
Auf die Frage, wie es der chinesischen Autorin Fang Fang gerade geht, antwortet ihr Übersetzer Michael Kahn-Ackermann. Er lebt selbst in China und hat telefonischen Kontakt zu ihr und schreibt mit ihr via Internet: „Es geht Fang Fang, wie es jemandem geht, der sich Tag für Tag mit Verleumdungen, Morddrohungen, obszönen Bemerkungen, unwahren Gerüchten auseinandersetzen muss“, antwortet er unserer Redaktion. Trotz der Situation sei Fang Fang ungebrochen. Aber sie möchte sich im Moment auch aus Vorsicht nicht öffentlich äußern.
Die Schriftstellerin Fang Fang hat das Buch der Stunde geschrieben: „Wuhan Diary: Tagebuch aus einer gesperrten Stadt“. Das sind 60 Einträge, die beschreiben, wie das Leben war, als niemand aus der Stadt ein- oder ausreisen durfte. In Wuhan brach das Virus zum ersten Mal aus, vieles ist über den Ursprung und Hergang noch ungewiss. Fang Fangs Buch, das jetzt weltweit erscheint, ist ein wichtiger Blick von innen, der hilft, die Corona-Pandemie und seine politischen und privaten Folgen besser zu verstehen.
Gleich zu Beginn, am 25. Januar, kritisiert sie die Behörden: „Die Achtlosigkeit und Untätigkeit der Wuhaner Behörden in der Frühphase der Epidemie und die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Funktionäre vor und nach der Verhängung der Abriegelung haben in der Bevölkerung eine gewaltige Panik ausgelöst und allen Wuhaner Bürgern Schaden zugefügt.“
Ihr deutlicher Ton findet immer mehr Anhänger. Sie veröffentlicht 60 Tage lang, bis zum 24. März. Fang Fang erhebt ihre Stimme. Ihr Tagebuch wird in der Zeit täglich von bis zu 100 Millionen Chinesen gelesen. Sie schreibt über Schutzmasken, für die Wucherpreise verlangt werden. Sie berichtet vom hilflosen Krankenhauspersonal, Eintrag vom 29. Januar: „Professor Chuan E von der Hubei-Universität gesteht mir, dass er jeden Tag einmal laut heulen möchte. Er spricht für uns alle.“
Und später: „Wuhan ist keineswegs die Vorhölle, als die sie sich manche vorstellen, sondern eine schöne Stadt.“
Sie schreibt über eine junge Frau, die weinend einem Leichenwagen hinterherrennt. Darin liegt ihre Mutter. Es sei klar, dass die Frau die
Mutter nicht selbst bestatten darf. Sie werde noch nicht einmal erfahren, was mit der Asche ihrer Mutter passiert ist.
Die 65-jährige Fang Fang war vor der Epidemie eine renommierte Schriftstellerin in China. Sie hat wichtige chinesische Literaturpreise
erhalten, gilt als Mitbegründerin der literarischen Form des Neorealismus und war bis 2016 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes ihrer Heimatprovinz Hubei. Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurde aus der Pensionärin für die Volksrepublik China eine unangenehme, eine gefährliche Autorin. Sie schreibt Sätze wie diesen am 24. Februar: „Ach je, die ganze Nation schaut auf Wuhan, und wir stolpern von einer Peinlichkeit in die nächste. Zum Haareraufen.“
Zwei Wochen bevor die Sperrung der Stadt aufgehoben wird, werden
Fragen nach Schuld und Verantwortlichkeit immer lauter. Hätte die Epidemie in Wuhan besser gemanagt werden können, hätte früher gehandelt werden müssen? Fang Fang schreibt am 9. März: „Ich sage klar und deutlich, das Eingeständnis von Fehlern und der freiwillige Rücktritt von Beamten der Provinz Hubei und der Stadt Wuhan müssen mit dem Parteisekretär und dem Direktor des Zentralkrankenhauses beginnen.“
In Chinas sozialen Medien wird Fang Fang auch heute noch angegriffen – vor allem von Personen, die eine Art Flügel der Kommunistischen Partei bilden, sagt Übersetzer Michael Kahn-Ackermann. „Sie mobilisieren junge Leute mit nationalistischen und teilweise antiwestlichen Parolen“und bezeichneten sie als Linksextremistin und „Vaterlandsverräterin“. Es gebe auch Leute, die Fang Fang verteidigen, aber sie werden oft von der Zensur blockiert. „Die Regierung und die Behörden haben bisher zur ganzen Angelegenheit nicht Stellung bezogen, jedenfalls nicht öffentlich“, erklärt Kahn-Ackermann.
Am 24. März hinterlässt Fang Fang ihren letzten Eintrag in ihrem Online-Tagebuch. Kurz vor dem Ende der Abriegelung rechnet sie mit ihren Feinden im Netz ab: „Besonderen Dank schulde ich den Linksextremisten, die Tag für Tag über mich herfallen. Hätten sie mich nicht angetrieben, hätte ein Faulpelz wie ich längst aufgehört, Tagebuch zu schreiben.“