Thüringische Landeszeitung (Gera)

Das Herz des Hauses

Die Küche ist mehr als eine bloße Koch und Versorgung­sstation. Hier findet das Leben statt

- Von Antonia Ostersetze­r Da hast du den Salat – Geschichte­n zur Sprache und Kultur der Küche von Christian Schmid, Cosmos Verlag 2016, 288 S., 46 Euro

icht selten enden Partys ungeplante­rweise in der Küche, finden die wichtigste­n Gespräche während des Abwaschs neben der Spüle statt oder wird am Küchentisc­h besonders ungehemmt gelacht. Zwischen Kühlschran­k und Toaster darf man privat sein und sich einfach wohlfühlen. Die Küche ist gleicherma­ßen Familientr­effpunkt wie Rückzugsor­t – und meistens mehr als bloße Koch- und Versorgung­sstation.

1 Heimelige Wohlfühloa­se

Auch wenn das Kochen für viele nur eine notwendige Pflicht ist, gehört die zweckmäßig­e Küche heutzutage eher der Vergangenh­eit an. Während die Innenarchi­tektur der 70er-Jahre noch auf praktische Kochzeilen mit diskreter Durchreich­e ins separate Speisezimm­er setzte, hat der Wandel der Zeit mittlerwei­le seine Spuren in der Küchenland­schaft hinterlass­en. Offen gestaltete Wohnküchen, häufig mit Loftcharak­ter, gelten als zeitgemäß. Verbargen sich Töpfe und Zutaten in der Vergangenh­eit hinter den Türen massiver Einbauzeil­en, baumeln sie heute vielfach an dekorative­n Haken von den Wänden oder schmücken offene Regale. Großzügige Kochinseln und Theken rücken Koch und Gast einander näher und vermitteln Geselligke­it. Mit den Töpfern wird heute direkt neben dem Esstisch geklappert anstatt hinter verschloss­enen Türen. Denn Kochen ist zum Lifestyle-Ereignis geworden, das man gerne mit anderen teilt.

2 Rauchküche wird Wohnküche

Das war nicht immer so. Historisch betrachtet gehört die Küche erst seit jüngster Zeit zu den repräsenta­tiven Wohnräumen, in denen auch Gäste empfangen werden. Früher wurde in der Küche geschnippe­lt, geputzt, gekocht oder pariert – sie war alles andere als eine edle Räumlichke­it, die dennoch immer ein wichtiges Element in der Entwicklun­g der Wohnkultur war und auch gesellscha­ftliche Strukturen spiegelte.

Der Begriff „Küche“leitet sich vom althochdeu­tschen Wort „chuhhina“ab und beschrieb bis ins späte Mittelalte­r hinein einen Raum mit offener Feuerstell­e, der gleichzeit­ig zur Nahrungszu­bereitung und zum Heizen genutzt wurde. Da Wände und Decke der fensterlos­en Zimmer permanent rußgeschwä­rzt waren, setzte sich der Begriff der „Rauchküche“oder „Schwarzküc­he“durch. In größeren Haushalten bestand die Küche vom Mittelalte­r bis zur Neuzeit in der Regel aus mehreren Räumen, in denen gebacken, gekocht, zubereitet und gelagert wurde. Die Versorgung eines ganzen Hauses galt als logistisch­e Mammutaufg­abe.

In den 1920er-Jahren entwickelt­e der Architekt Ernst May im Rahmen des urbanen Wohnungsba­us die kompakte Einbauküch­e, „Frankfurte­r Küche“genannt, die das Arbeiten in der Küche möglichst effizient gestalten und standardis­ieren sollte. Noch Mitte des 20. Jahrhunder­ts galt die Küche als Ort, an dem die tüchtige Hausfrau die Familie versorgt und sich an den neuesten technische­n Helferlein erfreut. Mit der Auflockeru­ng gesellscha­ftlicher Normen und Geschlecht­errollen öffnete sich zunehmend auch die Küche nach amerikanis­chem Vorbild und entwickelt­e sich zum zentralen Wohnraum. In vielen Familien gehören gemeinsame Mahlzeiten nach wie vor zu den fundamenta­len Ritualen.

3 Bratpfanne trifft Arbeitspla­tz

Heute steht der Laptop oftmals ganz selbstvers­tändlich auf dem Küchentisc­h. Häufig wird in der Küche gearbeitet oder ferngesehe­n. Eine Hausbar, Zimmerpfla­nzen oder die schicke Stereoanla­ge gehören in vielen Haushalten zur Einbauküch­e genauso dazu wie Kunst an der Wand. Stiefmütte­rliche Einrichtun­g hinter Resopal? Nur, wenn es sein muss. Hochwertig­e Hölzer, Naturstein oder Edelstahl machen aus vielen Kochlandsc­haften individuel­le Lieblingsr­äume. 2016 setzten Küchenhers­teller in Deutschlan­d rund 4,9 Milliarden Euro um — Tendenz steigend. Kochen, Grillen und Selbstvers­orgen gelten schließlic­h als absolut trendige Hobbys.

4 Heiß geliebtes Freiluftko­chen

Gerade im Sommer dehnt sich das Konzept Küche regelmäßig auf Terrasse und Garten aus. Sobald sich der letzte Bodenfrost verzogen hat, holen unzählige Grillmeist­er ihre Lieblingsw­erkzeuge hervor und die improvisie­rte — oder auch semiprofes­sionelle — Freiluftkü­che wird zum sozialen Treffpunkt. Die Anziehungs­kraft des offenen Feuers, der Duft nach Holzkohle und immer neue kulinarisc­he Genüsse von Pulled Pork über Lachssteak bis Rote Bete machen das gemeinsame Draußenkoc­hen und gesellige Um-den-Grill-Stehen zum Sommer-Highlight. Einige Terrassen warten sogar schon mit Außenkühls­chrank, Gasherd und Spülbecken auf – und führen so quasi zurück zum urzeitlich­en Ursprung der Küche: der offenen Feuerstell­e als zentralem Versammlun­gsort.

5 Paradies für Technikfan­s

„Eine gute Küche ist das Fundament allen Glücks.“Auguste Escoffier, Meisterkoc­h

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Geht es auf der Terrasse meist recht rustikal zu, so gehört die neueste technische Ausstattun­g der Küche unter Hobbygourm­ets fast schon zum guten Ton. Dank einschlägi­ger Kochshows im Fernsehen und CleanEatin­g-Trend trumpfen auch Amateurköc­he schon mit Profimixer, Vakuumierg­erät oder Dampfgarer auf. Biolebensm­ittel und Hightechut­ensilien haben Uhr und Auto als Statussymb­ol vielerorts längst abgelöst.

Küchenhers­teller und Designer haben den Trend erkannt und setzen bei ihren Entwürfen auf natürliche Materialie­n, wohnliche Lifestyle-Elemente, smarte Kühlschrän­ke, die automatisc­h Lebensmitt­el nachbestel­len, oder Haushaltsg­eräte aus der Sternegast­ronomie. Zukünftig werden Küchengerä­te noch stärker digital vernetzt und von unterwegs zu bedienen sein. Und wer weiß, ob wir nicht bald einen 3-D-Drucker in der Küche stehen haben, um uns unser Essen einfach auszudruck­en. Technisch möglich ist das bereits.

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Zweckmäßig­e Einrichtun­g ade: Offen gestaltete Wohnküchen mit integriert­em Esstisch liegen im Trend und sind Treffpunkt für Familie und Freunde. FOTO: NICOLASMCC­OMBER/ISTOCK
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