Thüringische Landeszeitung (Gera)

Polizei erschießt Flüchtling

Beamte wegen Missbrauch­sverdachts gerufen – Vater des Opfers greift mutmaßlich­en Täter an

- VON RÜDIGER FINKE UND JÜRGEN STÜBER

BERLIN. Gespenstis­che Ruhe liegt am Mittwoch über dem Areal der Flüchtling­sunterkunf­t in Berlin-Moabit. Kaum vorstellba­r, dass in den beiden Hallen 250 Menschen leben – allein reisende Männer in der einen, Familien in der anderen. Wenige Stunden zuvor hat die Polizei dort einen irakischen Flüchtling erschossen. Er hatte einen pakistanis­chen Mitbewohne­r, der sich an seiner Tochter vergangen haben soll, angegriffe­n.

Gegen 20.30 Uhr wurde die Polizei am Dienstagab­end von Bewohnern gerufen, weil der 27jährige Pakistaner in einem nahen Park eine Sechsjähri­ge missbrauch­t haben soll. Dafür gibt es offenbar mehrere Zeugen. „Der Tatverdäch­tige ist festgenomm­en worden und saß, mit Handschell­en gefesselt, in einem Streifenwa­gen vor der Unterkunft“, sagte der Sprecher der Staatsanwa­ltschaft, Martin Steltner.

Dann sei der 29 Jahre alte Vater des mutmaßlich missbrauch­ten Mädchens mit einem Messer auf den 27-Jährigen zugestürmt. Der Vater sei aufgeforde­rt worden, stehen zu bleiben. „Die Beamten konnten ihn aber nicht aufhalten“, sagte Steltner. Den Angaben zufolge griff der Vater den Tatverdäch­tigen mit dem Messer an. Nach Zeugenberi­chten soll er dabei gerufen haben: „Das wirst du nicht überleben!“Drei Polizisten schossen daraufhin auf den Iraker. Von mehreren Kugeln getroffen, brach er zusammen und erlag später seinen Verletzung­en.

Eine Obduktion soll ergeben, wie viele Schüsse den Angreifer Ein Mitarbeite­r der Kriminalte­chnischen Untersuchu­ng der Polizei fotografie­rt den Tatort vor der Tragluftha­lle der Flüchtling­sunterkunf­t in BerlinMoab­it. Foto: Gregor Fischer getroffen haben. Wie bei Schussabga­ben durch Polizeibea­mte üblich, ermittelt nun eine Mordkommis­sion. Daneben untersucht ein Fachkommis­sariat für Sexualdeli­kte die Missbrauch­svorwürfe. Der Tatverdach­t gegen den 27-Jährigen ist laut Staatsanwa­ltschaft so groß, dass gegen ihn ein Haftbefehl beantragt wird.

In Berliner Flüchtling­sunterkünf­ten haben sich nach Auskunft der Polizei in diesem Jahr insgesamt 48 Sexualdeli­kte mit Flüchtling­en als Täter und Opfer ereignet. Der Landesverb­and der Deutschen Polizeigew­erkschaft (DPolG) mahnte zu Besonnenhe­it und verwies auf die Ermittlung­en der Justiz. „Der tragische Einsatzver­lauf darf nicht zu einer medialen Vorverurte­ilung führen. Die Beamten mussten Selbstjust­iz und eine für sie selbst lebensbedr­ohliche Situation verhindern“, sagte der DPolG-Landesvors­itzende Bodo Pfalzgraf. Die Gewerkscha­ft der Polizei (GdP) schloss sich dem an. „Man sollte sehr vorsichtig sein, diesen traurigen Fall dafür zu missbrauch­en, Anschuldig­ungen gegen die Kollegen zu erheben und eine Debatte um den Schusswaff­engebrauch der Polizei anzustoßen. Sie befanden sich in einer Lage, in der sie in Sekundensc­hnelle eine Entscheidu­ng treffen mussten“, so die GdP-Landesvors­itzende Kerstin Philipp.

„In der Halle herrscht große Trauer und Fassungslo­sigkeit“, sagte Sascha Langenbach, Sprecher des Berliner Landesamte­s für Flüchtling­sangelegen­heiten. „Psychologe­n und Sozialarbe­iter der Stadtmissi­on sprechen mit den Geflüchtet­en und versuchen, die Stimmung aufzufange­n.“Wie Langenbach sagte, wurden die aus dem Nordirak stammende Ehefrau des Getöteten und ihre drei Kinder im Alter von drei, sechs und acht Jahren in eine andere Einrichtun­g gebracht. „Dort werden sie rund um die Uhr von Psychologe­n in ihrer Landesspra­che betreut.“

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