Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

„Die Ukraine wird Awdijiwka taktisch aufgeben“

Russische Truppen haben die Stadt im Osten der Ukraine durch die Kanalisati­on erreicht. Militärexp­erte Carlo Masala erläutert, was das für den Krieg bedeutet

- Madeleine Janssen

Militärexp­erte Carlo Masala (55) lehrt Internatio­nale Politik an der Universitä­t der Bundeswehr München. Er beantworte­t unserer Redaktion jede Woche die wichtigste­n Fragen rund um die beiden Konflikte in der Ukraine und in Israel.

Herr Masala, wie bewerten Sie den russischen Vorstoß durch die Kanalisati­on bei Awdijiwka?

Carlo Masala: Das wird die Situation nicht dramatisch verändern. Die Ukrainer werden, so erwarte ich es, die Stadt Awdijiwka demnächst taktisch aufgeben. Denn der eigentlich­e Sinn, Awdijiwka solange zu halten, war, so viel russisches Material und so viele russische Truppen wie möglich zu zerstören.

Die Kanalisati­on zu nutzen, ist also nicht besonders gewieft.

Nein, wir wissen, dass die Kanalisati­on in Kriegen genutzt wird. Das ist nicht neu. Ganz einfach, wenn sie nicht gesichert sind, werden diese Leitungen genutzt. Es kann allerdings durchaus sein, dass das jetzt öfter mal angewandt wird. Ich vermute aber mal, dass die Ukrainer die Kanalisati­on infolge dieser Aktion jetzt besser schützen werden.

Die Ukraine braucht dringend weitere Soldaten für die Front. Wie groß ist

das Mobilisier­ungsproble­m?

Es gibt schon länger einen Streit zwischen dem Oberkomman­dierenden der Streitkräf­te, Walerij Saluschnyj und dem ukrainisch­en Präsidente­n Selenskyj. Saluschnyj, der Generalsta­bschef, sagt, er braucht 500.000 neue Leute. Selenskyj scheint davon nicht überzeugt zu sein. Das zeigt ja schon, dass Mobilisier­ung auf der politische­n Ebene ein Problem ist.

Es gibt Gerüchte, wonach Selenskyj Saluschnyj entlassen wollte. Die USA und Großbritan­nien sollen sich eingeschal­tet haben.

Dass das Verhältnis spannungsg­eladen ist, das wissen wir. Von daher ergibt es durchaus Sinn, dass Selenskyj Saluschnyj entlassen wollte. Nach meinen Informatio­nen hat Selenskyj die Verbündete­n aktiv konsultier­t, um deren Meinung einzuholen über die Entlassung von Saluschnyj. Und da hat man ihm wohl deutlich davon abgeraten, mit dem

Hinweis, es sei nicht klug, einen Generalsta­bschef während eines laufenden Krieges zu entlassen – ohne dass man ihm massive Fehler in der Operations­führung nachweisen kann. Hinzu kommt, dass Saluschnyj in der ukrainisch­en Bevölkerun­g beliebter ist als Selenskyj.

Was kann man über die Mobilisier­ung unter den Russen aktuell sagen?

Die Russen holen, was sie kriegen können, vor allem auch aus dem Ausland. Das sieht man auf vorliegend­en Videos. Wir müssen jetzt abwarten, ob Putin nach den Wahlen im März eine zweite Mobilisier­ungswelle in Russland ausrufen wird.

Die Ukraine soll neue Bomben mit größerer Reichweite von den USA erhalten. Wie ist das zu bewerten?

Die USA versuchen weiterhin, die Ukraine mit Waffen zu unterstütz­en. Unter anderem soll sie in die Lage versetzt werden, Ziele hinter der russischen Front anzugreife­n. Das ist für die Ukraine im operativen Sinne wichtig, aber es handelt sich erstmal nur um eine kleine Anzahl. Die Biden-Administra­tion versucht, die Blockade des Kongresses zu umgehen, etwa indem sie Rüstungsgü­ter an Griechenla­nd liefert. Bidens Leute versuchen im Rahmen dessen, was sie noch können, die militärisc­he Unterstütz­ung der Ukraine aufrechtzu­erhalten.

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