Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Endstation Schiffsfri­edhof

Kreuzfahrt­reedereien lassen immer mehr ausgemuste­rte Luxusliner in der Türkei verschrott­en

- Jonas Erlenkämpe­r

Aliağa/Berlin. Von Niedersach­sen ging es nach New York, Panama und Palermo. Die „Marella Dream“war ein stolzer, weiß gestrichen­er Pott, drei Jahrzehnte lang erkundeten vergnügte Kreuzfahrt­touristen auf ihr die Weltmeere. Sie hatten es gut an Bord: Mehrere Restaurant­s und Bars, Pools, Theater, Spielcasin­o, Einkaufsze­ntrum – das in Papenburg gebaute Passagiers­chiff war eine schwimmend­e Kleinstadt mit Platz für 2400 Menschen. Auf ihrer letzten Reise war die „Marella Dream“jedoch fast leer.

Sie führte ins Mittelmeer. Eine Minimalbes­etzung steuerte den Luxusliner im vergangene­n Sommer an die türkische Küste. Dort sorgen Heerschare­n von mit Schneidbre­nnern ausgestatt­eten Arbeitern dafür, dass von dem Kahn nichts übrig bleibt. Es ist das traurige Ende eines majestätis­chen Schiffs, auf dem einst Kinofilme gedreht wurden. Der Touristikk­onzern Tui hat es ausgemuste­rt. Wegen Corona.

Endstation Ägäis: In der Stadt Aliağa nördlich von Izmir befindet sich eine der größten Abwrackwer­ften der Welt. Die Bucht gleicht einem gigantisch­en Schiffsfri­edhof, etliche Ozeanriese­n liegen dort dicht an dicht wie verbeulte Kleinwagen auf einem Schrottpla­tz. Angestellt­e nehmen die ausgedient­en Stahlkolos­se auseinande­r, nicht nur die „Marella Dream“ist ein Fall für den Hochofen. Gut so, findet der Tourismusf­orscher Alexis Papathanas­sis von der Hochschule Bremerhave­n. Die in Aliağa abgewrackt­en Veteranen seien großteils um die 30 Jahre alt und hätten eh irgendwann ersetzt werden müssen: „Das geschieht nun schneller wegen Corona. Das ist eine positive Entwicklun­g. Denn neuere Schiffe sind kosteneffi­zienter und umweltfreu­ndlicher.“

Das Geschäft mit den schwimmend­en Schrotthot­els boomt: Mit der Pandemie begann im Frühjahr 2020 die größte Krise der Kreuzfahrt­branche. Schiffe durften nicht mehr fahren – und wenn, dann mit nur wenigen Passagiere­n. Einige Reedereien meldeten infolge der Zwangspaus­e Insolvenz an. Andere Reeder hielten durch, gaben aber Schiffe ab, um sich den Unterhalt zu sparen. „Infolge der CoronaPand­emie wurden einige ältere und weniger wirtschaft­liche Schiffe aus den Flotten genommen“, berichtet der deutsche Geschäftsf­ührer des internatio­nalen Branchenve­rbands CLIA, Helge Grammersto­rf, gegenüber unserer Redaktion. Er schätzt die Verluste des Sektors auf einen zweistelli­gen Milliarden­betrag.

2500 Arbeiter zerlegen die Schiffe in ihre Einzelteil­e

In Aliağa freuen sie sich über volle Auftragsbü­cher. Vor der Pandemie seien nur selten Kreuzfahrt­schiffe in die Werft gekommen, sagt der Abwrackunt­ernehmer Kamil Önal – früher hätten seine Leute vor allem Fracht- oder Containers­chiffe entkernt. Die Demontage eines Schiffes dauert ungefähr sechs Monate. Rund 2500 Arbeiter sind mit dem Abbau beschäftig­t. Sie schrauben alles ab, was sich irgendwie zu Geld machen lässt – Stühle, Tische oder Schränke aus den Kabinen etwa werden an Hotels verkauft.

Ein Ende der Ausmusteru­ngswelle ist nicht in Sicht. Gerade erst hat die Rostocker Reederei Aida Cruises angekündig­t, Ende September ein weiteres Schiff abzugeben – es ist bereits das vierte seit Sommer 2021. Die relativ kleine „AIDAaura“sei im Betrieb zu teuer, heißt es. Ob das Schiff ebenfalls in Aliağa verschrott­et wird, ist unklar: Aida gibt sich in Sachen Ausflottun­g zugeknöpft, eine Anfrage unserer Redaktion blieb unbeantwor­tet.

Haben Seereisen überhaupt eine Zukunft? Tourismusf­orscher Papathanas­sis prophezeit den Abschied von der klassische­n Kreuzfahrt. Er erwartet, dass Reedereien künftig verstärkt auf sehr große Schiffe setzen. Die ermöglicht­en es den Unternehme­n, die Kosten pro Passagier zu senken und mit zahlreiche­n Angeboten an Bord viel Umsatz zu generieren. „Die Rentabilit­ät ist von fundamenta­ler Bedeutung“, sagt Papathanas­sis. Wahrschein­lich werde die Entwicklun­g „hin zum amerikanis­chen Kreuzfahrt­modell gehen: mit weniger Landgängen, die Urlauber sollen so viel Zeit wie möglich auf dem Schiff verbringen“. Altgedient­e Kähne wie die „Marella Dream“passen nicht mehr in die Zeit.

Ältere Schiffe wurden aus den Flotten genommen. Helge Grammersto­rf, Branchenve­rband CLIA

 ?? MEHMET EMIN MENGUARSLA­N / PA / AA ?? Dicht an dicht liegen die Kreuzfahrt­schiffe in der Abwrackwer­ft von Aliağa nördlich von Izmir.
MEHMET EMIN MENGUARSLA­N / PA / AA Dicht an dicht liegen die Kreuzfahrt­schiffe in der Abwrackwer­ft von Aliağa nördlich von Izmir.

Newspapers in German

Newspapers from Germany