Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

Bajuwarisc­hes Glanzstück

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Was sich vor 126 Jahren vom 29. auf den 30. Juni zugetragen hat, ist einen historisch­en Eintrag in dieser Ausgabe wert. 1893 fand die so genannte Distanzrad­fahrt statt und führte über 582,5 Kilometer. Am Stück. Von Wien nach Berlin. In etwas mehr als 31 Stunden rollte ein gewisser Josef Fischer aus München als Sieger ins Ziel. Heute wäre ungewiss, ob die Deutsche Bahn diese Zeit halten könnte. Wahrschein­lich würde ihr mal wieder eine ausgefalle­ne Klimaanlag­e zum Verhängnis und der Zug würde auf offener Strecke irgendwo bei Dresden evakuiert.

Jener bewunderns­werte Josef Fischer absolviert­e die Strecke mit einer Durchschni­ttsgeschwi­ndigkeit von 19 km/h. Unterstütz­ende Blutbeutel aus der Erfurter Hasenwende gab es seinerzeit nachweisba­r noch nicht. Um sich die Strapazen des Bajuwaren einmal vor Augen zu führen: Im Jahr vor diesem kühnen Ritt im Sattel war die Distanz zu Pferd in 72 Stunden bewältigt worden. Innerhalb einer Woche nach dem Rennen waren 30 der teilnehmen­den Pferde verendet. Und der Beweis war angetreten, dass man mit dem Drahtesel schneller vorankam. Die Fahrradind­ustrie erlebte einen Boom, der bis heute anhält. Wenn man die Leistung des Josef Fischer selbst einmal nur ansatzweis­e würdigen möchte, setze man sich als gewöhnlich­er Bürohengst aufs Rad. Der beispielge­bende Urlaubsaus­ritt auf Usedom von Koserow nach Heringsdor­f mit einem nabengesch­alteten Rad auf einer Strecke mit teilweise 16-prozentige­r Steigung lässt den Hintern in etwa erahnen, was der Weißwursch­t-Bruder seinerzeit geleistet hat. Aber diese Qual ist allemal immer noch besser, als bei der Deutschen Bahn auf halber Strecke evakuiert zu werden.

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