Thüringische Landeszeitung (Erfurt)
Im Herbst und Winter geht’s um die Haut: Studentinnen übersetzen Medizinerlatein
„washabich.de“: Patienten können sich kostenlos über diese Internetseite ärztliche Unterlagen ins Alltagsdeutsch übertragen lassen
JENA. „Zystische Raumforderung im IV. Segment“– Wer solches formuliert, war weder ein Raumschiffkommandant, der ins Universum geblickt, noch eine Seherin, die in die Karten geschaut hat. Es war ein Arzt, der in den Tiefen des menschlichen Körpers eine Blase fand, etwa in der Mitte der Leber.
Vermutlich hat er es dem Patienten erklärt, der vermutlich zu aufgeregt war, um alles zu verstehen und sich zu merken – denn Patienten vergessen bis zu 80 Prozent der Informationen, sobald sie das Behandlungszimmer verlassen haben. Zu Hause sitzt der Mensch dann vor dem schriftlichen Befund – wenn er sich nach der Lektüre zufrieden zurücklehnt, weil er alles verstanden hat, hatten vermutlich die Übersetzer des Internetportals „washabich.de“ihre Hände und Köpfe im Spiel. Sie wandeln das „Fachchinesisch“von Krankenhaus-Entlassbriefen, Laborberichten und Befunden in verständliches Deutsch um, versehen ihre Übersetzungen mit Illustrationen der betroffenen Körperteile oder auch der Eingriffe, die vorgeschlagen werden, sowie Basisinformationen zu Organen und ihrer Funktion.
„Die persönlichen Daten werden geschwärzt, wir kennen nur Alter und Geschlecht der Patienten“, erzählen Anna Löffelholz, Lisa Zschille und Friederike Henoch. Sie studieren an der Universität Jena und gehören zu den fast 1600 Medizinstudenten und Ärzten in allen Teilen Deutschlands, der Schweiz, Österreich und anderen Ländern, die ehrenamtlich Befunde und Berichte übersetzen. Für die Patienten bleiben die Übersetzer ebenfalls anonym.
„Das ist am Anfang richtig schwer“, sagen alle Drei. „Wir sind als Medizinstudentinnen so sehr in der Fachsprache drin, dass uns teilweise gar nicht mehr bewusst ist, dass wir gerade kein Deutsch sprechen, und wir echt überlegen müssen, wie wir Dinge auf Deutsch erklären können. Wir müssen buchstäblich übersetzen.“Hilfestellung bekommen sie dabei von hauptberuflich bei „washabich.de“arbeitenden Ärzten. Diese kontrollieren die Übersetzungen, arbeiten mit den Ehrenamtlichen an Stärken und Schwächen, setzen Lernziele.
Sie teilen ihnen auch die Befunde zu, die am Anfang entweder kurz oder leicht sind. Erst wenn sie grünes Licht geben, dürfen sich die Übersetzer eigenständig aussuchen, was sie bearbeiten. „Dafür gibt es ein Dashboard“, erklärt Anna Löffelholz. „Dort hängen immer 15 bis 20 Angebote, aus denen man wählen kann.“Dieses Schwarze Brett hängt im Internet, denn der medizinische Übersetzungsdienst funktioniert virtuell. Der einzige persönliche Kontakt läuft per Telefon. Lexika und Wörterbücher, Textbausteine für wiederkehrende Elemente, Fotos, Illustrationen – alles steht im Internet bereit. Wer reden will, nutzt den
Chat, zu Deutsch: Plausch, auf dem
Portal. Patienten, die Befunde einsenden wollen, sollten das ebenfalls per Internet tun. Sie bekommen aber auch die Möglichkeit, ein
Fax zu schicken.
„Wir hätten nicht gedacht, dass die Betreuung so intensiv ist“, ist das Trio begeistert, denn jederzeit kann auf die Expertise der hauptamtlich angestellten Ärzte zurückgegriffen werden. Zudem ist jede Übersetzung für jeden Mitarbeiter einsehbar – auch als Ideenbörse für die Erklärung von komplizierteren Begriffen. Es gibt einen Frage-Antwort-Bereich, aus dem heraus bei besonders kniffligen Sachverhalten das Experten-Netzwerk benachrichtigt und um Unterstützung gebeten wird. Acht Semester müssen alle Medizinstudenten absolviert haben, bevor sie sich bei „washabich.de“bewerben dürfen – für die 23-jährige Anna Löffelholz stand im dritten Semester schon fest, dass sie dort einsteigen will. „Schuld“sind Dr. Eckart von Hirschhausen und seine Vorlesung in Jena: Der Medizin-Kabarettist trat unentgeltlich vor den Studenten auf, stellte dabei auch das Wörterbuch „Deutsch-Arzt / Arzt-Deutsch“und das Übersetzerportal vor. Jetzt ist Anna Löffelholz im 10. Semester und seit einem Jahr dabei. Knie, Hüfte, Hand: Was Orthopädie und Unfallchirurgie zu bieten haben, fasziniert sie.
Die meisten Übersetzungsanfragen kommen im Anschluss an Computer- oder Magnetresonanztomografien – wenn die Patienten also „in der Röhre“waren und auf diese spezielle Art durchleuchtet worden sind. „Diese Befunde sind besonders unverständlich“, sagt Beatrice Brülke, Pressesprecherin bei „washabich“. Viele Befunde kämen auch aus der Inneren Medizin; vertreten sei aber jeder der humanmedizinischen Fachbereiche. Jahreszeitliche Kurven gibt es zudem: „Im Herbst und Winter kommen die Hautbefunde rein, da haben nach dem Sommer alle Hautkrebsvorsorge gemacht“, schmunzeln die Studentinnen.
Zu schaffen macht ihnen selten, was sie übersetzen: „Lebensbedrohliches bekommen wir nicht auf den Tisch. Da sind die Ärzte eher geneigt, genauer zu erklären, als bei harmlosen Diagnosen“, ist ihre Erfahrung. „Meistens sind die Ergebnisse der Untersuchungen negativ – das bedeutet: nichts gefunden, alles gut.“Zudem ist ihr Auftrag, sachlich zu bleiben. „Wir dürfen nicht werten und keine Behandlungsempfehlungen geben – das hilft auch dabei, die Fälle nicht zu nahe an sich heranzulassen.“
Lisa Zschille, 25 Jahre alt, im 11. Semester und begeistert von Neurologie, ist seit gut fünf Monaten dabei. „Ich habe im Internet davon gelesen und fand es eine Superidee“, sagt sie – und hat mit ihrer Begeisterung Friederike Henoch (25) angesteckt. Diese möchte Allgemeinmedizinerin werden und absolviert gerade ihr Praktisches Jahr. „Meine Patienten sollen später ihre Befunde nicht zu ‚washabich.de‘ schicken“– das meint sie nur halb scherzhaft. „Patientengerechte Sprache steht im Studium eher nicht im Vordergrund“: Dass sie diese beim Übersetzen lernen, sehen alle Drei als großen Vorteil ihres Ehrenamtes. Arztbriefe zu schreiben oder Diagnosen zu sehen gehöre auch eher nicht zum Studium.
Eine Übersetzung pro Woche wollen Anna Löffelholz, Lisa Zschille und Friederike Henoch jeweils abliefern. Das ist ihr persönliches Ziel, Vorgaben werden nicht gemacht. Etwa sechs Stunden hat jede von ihnen für die erste Übersetzung gebraucht; drei bis vier Stunden werden es in der Regel bleiben.
Schönster Lohn sind die Spenden der Patienten für Befunde, von denen die Übersetzer einen Teil bekommen, und die Sterne, die ganz irdischen. Sie werden von den Patienten vergeben für Verständlichkeit und Ausführlichkeit – für Anna Löffelholz, Lisa Zschille und Friederike Henoch funkeln schon einige am Übersetzer-Himmel.