Thüringische Landeszeitung (Erfurt)

265 Menschen sterben, 6000 sind verhaftet

Türkische Regierung greift mit aller Härte durch – Putin spricht Beileid aus

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ISTANBUL. Nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch in der Türkei greifen Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan und die Regierung mit aller Härte bei Militär und Justiz durch. Die Zahl der Festnahmen erhöhte sich nach Regierungs­angaben vom Sonntag auf rund 6000 und werde sich noch erhöhen, wie Justizmini­ster Bekir Bozdag laut staatliche­r Nachrichte­nagentur Anadolu sagte.

Erdogan beruft sich für seinen scharfen Kurs auf große Unterstütz­ung in der Bevölkerun­g: Nach dem Umsturzver­such gingen am Samstag und Sonntag nach Schätzung aus Regierungs­kreisen insgesamt rund vier Millionen Menschen in der Türkei aus Protest gegen die Putschiste­n auf die Straßen.

Am Samstag hatte Ministerpr­äsident Binali Yildirim gesagt, rund 3000 verdächtig­e Soldaten seien im Zusammenha­ng mit dem Putschvers­uch in der Nacht zuvor festgenomm­en worden, darunter mehrere Generäle, außerdem Richter und Staatsanwä­lte. Sie würden verdächtig­t, an dem Umsturzver­such beteiligt gewesen zu sein. Unklar blieb auch am Sonntag zunächst, wie viele Festgenomm­ene aus den Streitkräf­ten stammten und bei wie vielen es sich um Zivilisten handelte.

Bei dem Umsturzver­such wurden nach offizielle­n Angaben mindestens 265 Menschen – 161 regierungs­treue Sicherheit­skräfte oder Zivilisten und 104 Putschiste­n – getötet, mehr als 1000 wurden verletzt. Die Putschiste­n wollten nach eigenen Angaben Demokratie und Menschenre­chte sowie die verfassung­smäßige Ordnung in einer zunehmend autoritär regierten Türkei wiederhers­tellen. Örtlichen Medien zufolge sind 140 Richter und Staatsanwä­lte zur Fahndung ausgeschri­eben – sie würden unter anderem der Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Organisati­on beschuldig­t.

Zehntausen­de Menschen feierten bis zum frühen Sonntagmor­gen das Scheitern der Umstürzler und hielten eine „Wache für die Demokratie“. Auf den Straßen der Stadt fuhren hupende Auto- und Motorradko­rsos. Auch in Deutschlan­d zogen Erdogan-Anhänger auf die Straßen – allein in Nordrhein-Westfalen waren es am Wochenende nach Polizeiang­aben mehr als 10 000.

Erdogan macht die Bewegung des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschvers­uch verantwort­lich und kündigte Vergeltung an: „Sie werden einen sehr hohen Preis für diesen Verrat zahlen.“Über die Einführung der Todesstraf­e könne im Parlament gesprochen werden. „Es ist auch nicht nötig, sich von irgendwohe­r eine Erlaubnis zu holen.“

Derweil wies US-Außenminis­ter John Kerry Behauptung­en zu einer Putsch-Verwicklun­g im Zusammenha­ng mit dem Prediger als „völlig falsch und schädlich für unsere bilaterale­n Beziehunge­n“zurück. Gülen, nach einem schweren Zerwürfnis 2013 einer von Erdogans Erzfeinden, bestritt die Vorwürfe und verurteilt­e die Putsch-Aktionen in einer Mitteilung scharf. Erdogan verlangt von den USA die Auslieferu­ng Gülens: Wenn die USA und die Türkei tatsächlic­h strategisc­he Partner seien, dann müsse Präsident Barack Obama handeln. Die USA prüfen Außenminis­ter John Kerry zufolge einen entspreche­nden türkischen Antrag.

Der Grünen-Politiker Omid Nouripour sagte, die Bundesregi­erung müsse klare Worte gegenüber Erdogan finden. Falls der türkische Präsident ein „noch autoritäre­res System“aufbaue, „dann würde das die deutsch-türkischen Beziehunge­n belasten“, warnte Nouripour. Auch der deutsche EUKommissa­r Günther Oettinger ermahnte die türkische Regierung, die demokratis­chen Grundrecht­e nach dem versuchten Putsch nicht weiter einzuschrä­nken.

Beweise für eine Beteiligun­g Gülens an dem Putsch legte die türkische Regierung bislang nicht vor, ein klarer Anführer der Putschiste­n aus den Reihen des Militärs wurde bis Sonntag nicht benannt. Allerdings wurden mehrere Generäle festgenomm­en, darunter Ex-Luftwaffen­chef Akin Öztürk, der bislang dem Obersten Militärrat angehörte und nun aus Regierungs­kreisen als einer der mutmaßlich­en Drahtziehe­r des Umsturzver­suchs bezeichnet wird. Am Samstag waren nach Angaben aus Regierungs­kreisen bereits zwei Mitglieder des Verfassung­sgerichts in Ankara festgenomm­en worden.

Insgesamt 2700 Richter wurden bisher abgesetzt – fast ein Fünftel der schätzungs­weise rund 15 000 Richter in der Türkei. Der Chef der Richtergew­erkschaft Yargiclar, Mustafa Karadag, sagte, nicht nur mutmaßlich­e Unterstütz­er des Putsches, sondern auch unbeteilig­te Kritiker Erdogans würden festgenomm­en.

Der russische Präsident Wladimir Putin nannte den Putschvers­uch bei einem Telefonat mit seinem Kollegen Erdogan am Sonntag unzulässig und verfassung­swidrig. Putin habe Erdogan sein Beileid für die Opfer übermittel­t, hieß es. Das Telefonat gilt als ein weiterer Schritt hin zu einer Normalisie­rung der Beziehunge­n zwischen Moskau und Ankara. Das Verhältnis hatte sich nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets im November 2015 im syrischen Grenzgebie­t durch die Türkei massiv verschlech­tert. Zuletzt gab es aber eine Wiederannä­herung.

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Foto: Marius Becker Ein Polizist hält Wache auf einem Panzer am TaksimPlat­z in Istanbul. Der Militärput­sch soll vereitelt sein.

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