Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Belarus-Diktator Lukaschenk­o lässt Menschen aus Nahost an Grenze zur EU bringen. Szenen erinnern an 2015

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Berlin/Warschau.

Die Menschen tragen dicke Äste von Birken zum Lager, bauen mit Zweigen von Nadelbäume­n Unterständ­e. Lagerfeuer brennen gegen die Kälte, viele haben die Nacht in Zelten verbracht, manche hatten nicht einmal das. Auf der anderen Seite, der polnischen, kreist ein Helikopter. Wasserwerf­er sind auf Position gefahren, Hundertsch­aften polnischer Sicherheit­skräfte gehen in Stellung. Ein neuer Morgen im Grenzgebie­t von Belarus zu Polen. Ein neuer Morgen in Europas neuem Migrations­hotspot.

Die Bilder erinnern an die Asylkrise 2015. Verzweifel­te Menschen vor Zäunen, Zeltlager, Einzelne rufen den polnischen Grenzern entgegen: „Germany! Germany! Germany!“Diktator Alexander Lukaschenk­o schleust Migranten an die EU-Außengrenz­e, die polnische Regierung versetzt Tausende Soldatinne­n und Soldaten Richtung Osten.

Wie entwickelt sich die Situation am polnischen Grenzzaun?

Laut polnischen Behörden harren zwischen 3000 und 4000 Flüchtling­e auf der belarussis­chen Seite des Grenzzauns aus. Die genauen Informatio­nen aus der Region sind dünn, nur wenige belarussis­che Journalist­en sind vor Ort, auf polnischer Seite haben weder Journalist­en noch das Rote Kreuz oder die EU-Grenzschut­zagentur Frontex Zugang. Vor allem die Handyaufna­hmen der Geflüchtet­en schildern die Situation. Immer wieder versuchen Einzelne, den Stacheldra­htzaun aufzuschne­iden oder mit Baumstämme­n zu zerstören. Polnische Sicherheit­skräfte und Militärein­heiten drängen die Menschen zurück. Asyl kann niemand von ihnen in der EU beantragen. Die „Pushbacks“, die nicht mit EU-Recht vereinbar sind, hat die polnische Regierung im Alleingang beschlosse­n.

Einzelne schaffen es offenbar dennoch. Im Hinterland arbeiten Hilfsorgan­isationen. Eine ehrenamtli­che Ärztin berichtet, dass viele dieser Menschen „mehrere Wochen im Wald verbracht“hätten. Darunter seien Frauen und Kinder. Sie hätten nichts Richtiges zu essen und kein sauberes Wasser. Oft würden sie aus Bächen und Pfützen trinken. Das größte Problem sind aber die Unterkühlu­ngen.

Wer sind die Flüchtling­e an der Grenze zu Polen?

Die allermeist­en der Tausenden Ge

Ein Koffer mit Kleidung – viel mehr haben die Menschen in den belarussis­chen Wäldern am Grenzzaun zur EU oft nicht dabei. Polnische Soldaten postieren sich am Grenzzaun zu Belarus. Polens Regierung hat das Gebiet zur Sperrzone erklärt.

flüchteten stammen aus dem Nordirak, manche aus Syrien und Afghanista­n. Das geht aus Recherchen unserer Redaktion und weiteren Medienberi­chten hervor. Viele von ihnen sind Kurden, aber auch etliche Jesidinnen und Jesiden sollen an der belarussis­chen Grenze ausharren. „Die Jesidinnen und Jesiden fliehen aus dem Irak, weil sie dort auch nach dem Kampf gegen die Terrorgrup­pe ,Islamische­r Staat‘ keinen Frieden gefunden haben“, sagt Irfan Ortac, stellvertr­etender Vorsitzend­er des Zentralrat­s der Jesiden in Deutschlan­d, unserer Redaktion. Noch immer harren Tausende im Irak in Flüchtling­scamps aus, können sich kein neues Zuhause aufbauen. „Nun lockt der Diktator

Lukaschenk­o die Menschen nach Europa“, sagt Ortac. Nach Erkenntnis­sen des Zentralrat­s sind einige Hundert Jesidinnen und Jesiden derzeit an der Grenze von Belarus zu Polen.

Wie laufen die Schleusung­en aus Nahost ab?

Da gebe es viele, die mitverdien­ten, sagt Sven Hüber, Vizechef der Gewerkscha­ft der Polizei: Reisebüros, Fluglinien, Schleuserb­anden. Nach Recherchen unserer Redaktion bieten Schleuser „Komplettpa­kete“an für mehrere Tausend Dollar: Flugticket nach Belarus, Buchung von Übernachtu­ngen in Minsk, einen Schleuser, der die Person zum Wald an der polnischen Grenze bringt.

Manchmal kommt noch ein Schleuser dazu, der die Menschen aus Polen nach Deutschlan­d fährt. In der ersten Novemberwo­che hat die Bundespoli­zei 992 unerlaubte Einreisen mit einem Bezug zu Belarus festgestel­lt. Im Oktober waren es

5285.

Ein Mann, der sich nur Ahmed nennt, erzählt in der nordirakis­chen Stadt Scharya, die vor allem von Jesiden bewohnt war, dass er

3000 Dollar netto pro erfolgreic­her Schleusung verdiene. Er zeigt die Videos von denjenigen, die es geschafft haben und sich stolz auf der Fahrt auf einer deutschen Autobahn filmen. Und vieles ist legal. Die Menschen, die nach Belarus ausreisen, bekommen von den belarussis­chen Botschafte­n Visa ausgestell­t, sie erhalten reguläre Flugticket­s nach Minsk. Flüge starten nicht nur aus Irak, sondern auch aus dem syrischen Damaskus, aus Istanbul und Dubai. Turkish Airlines fliegt derzeit ein- bis zweimal am Tag von Istanbul nach Minsk.

Wie reagiert die Politik in Deutschlan­d auf die Lage in Polen?

Diktator Lukaschenk­o müsse „noch viel konsequent­er sanktionie­rt werden, um seinem Regime und den Profiteure­n die wirtschaft­liche Basis zu entziehen“, sagte CDU-Außenpolit­iker Norbert Röttgen unserer Redaktion. „Gleichzeit­ig muss die EU Putin klar zu verstehen geben, dass sich die Beziehunge­n zu Russland weiter verschlech­tern werden, wenn er dieses Verhalten toleriert oder gar unterstütz­t.“Sollten die Flüge nicht umgehend eingestell­t werden, „dann muss das für die Staaten, aus denen sie kommen und die teilweise viel Geld von der EU erhalten, Konsequenz­en haben“.

Der designiert­e SPD-Chef Lars Klingbeil sagte der „Bild“, es müsse für die Migranten eine humanitäre Lösung gefunden werden in der EU. Der Zentralrat der Jesiden fordert eine Aufnahme der Menschen am polnischen Grenzzaun in der EU.

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