Thüringische Landeszeitung (Eisenach)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Aber du kannst mir doch nicht einfach eine Brille kaufen“, wagte er einen schwachen Protest.
„Und ob ich das kann, schließlich liebe ich dich, da darf ich dir auch was schenken.“
Stadler blieb stehen wie vom Donner gerührt. Er wusste, dass das L-Wort früher oder später fallen würde, war aber doch überrascht, dass es dann so rasch und dahergeplappert, ja, so unromantisch war. Was hatte er sich vorgestellt? Ein Candle-Light-Dinner? Eine Flasche Wein am Strand zum Sonnenuntergang? Ja, doch, so ungefähr. Ein Satz fiel ihm plötzlich ein: Liebe ist nur ein Wort – Elefantenscheiße auch.
Sie zog an seinem Arm.
„Was ist?“, fragte sie ungeduldig. „Gefällt dir die Brille nicht oder bist du plötzlich erblindet.“
„Sag das noch mal“, bat er sie. „Gefällt dir die Brille nicht?“„Nein, das davor, das mit der Liebe.“
Sie zog die Nase kraus.
„Ach daaas“, sagte sie gedehnt. „Das musst du doch längst bemerkt haben.“
„Ja“, sagte er und ließ sich noch immer nicht vom Fleck ziehen. „Aber du hast es noch nie gesagt. Bitte sag es noch mal.“Sie lächelte ihn an, hob den Kopf und küsste ihn auf die Nasenspitze.
„Ich liebe dich, mein großer weißer Brummbär. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich. Und mit dieser Sonnenbrille liebe ich dich noch viel viel mehr.“
Er zog sie an sich, mitten auf dem Gehsteig, nahm sie in seine Arme und küsste ihren duftenden Hals.
„Und ich liebe dich“, murmelte er, „ich liebe dich, ich liebe dich.“
Sie löste sich von ihm.
„Gut, aber jetzt geht es weiter“, sagte sie forsch, henkelte sich wieder ein und zog ihn fort.
Stadler kam sich mit der finsteren Brille ein wenig deplatziert vor. Vielleicht würde er sich daran gewöhnen. Ein Roller wurde neben ihnen langsamer.
„Ciao Carlotta“rief dessen Fahrer, ein junger schwarzhaariger Bursche. „Ciao Emilio!“Carlotta winkte ihm ausgelassen.
„Führst du deinen Großvater spazieren?“, frotzelte der Rollerfahrer.
Stadler legte sich eine passende Antwort parat, war aber nicht schnell genug. Carlotta riss den Arm hoch und zeigte dem Burschen einen Stinkefinger. „Verpiss dich, du Hund!“, schrie sie ihm hinterher. Passanten drehten sich um. Der Junge lachte und knatterte davon. Stadler war die Angelegenheit peinlich.
„So ein Stinker, den ich aus der Schule kenne, musst du nicht ernst nehmen“, tat Carlotta die Sache ab und hakte sich erneut bei ihm unter.
Nicht nur diesen Auftritt empfand Stadler als, nun ja, als unangemessen. Ihn nervte auch ihre kindliche Ausgelassenheit, wenn sie selbst ihn mit seinem Lebensalter aufzog, sie nannte ihn mal „mein Alterchen“und manchmal auch, für Stadler besonders zum Gruseln,
„Babbo“. Wenn er sich das verbat, und zwar mit Nachdruck, weil er Vater-Tochter-Spielereien, und sei es auch nur im Scherz, in einer ernsthaften Beziehung grenzwertig fand, das hatte so einen pädophil-inzestuösen Beigeschmack, dann alberte sie noch mehr, machte sich über ihn lustig und forderte sogar, zur Bestrafung auf den Popo gehauen zu werden. Und zwar kräftig. Eine Aufforderung, die ihn bei anderen Gelegenheiten, und auch die gab es, durchaus reizte.
Ferragosto. Für Carlotta begannen zwei schwere Wochen. Jeder, der konnte, machte Ferien. Für die Angestellten des Hotels, das inzwischen annähernd ausgebucht war, bedeutete dies, dass sie an manchen Tagen Doppelschichten fahren mussten. Carlotta hatte es ihm bereits gesagt und auch der Padrone hatte ihm gegenüber in ziemlich umständlichen Andeutungen deutlich gemacht, dass er nun eine Weile ohne seine neue Liebe auskommen müsse. Ein komischer Kauz, dieser Padrone. Auf der einen Seite zog er Laurenz Stadler auch bei heiklen Dingen immer wieder ins Vertrauen, ja, manchmal holte er sich gar Rat bei seinem deutschen Dauergast. Andererseits glaubte er aber auch, durch diese Nähe das Recht zu haben, ihn ziemlich kumpelhaft behandeln zu können. Beides war nicht ganz Stadlers Art, aber er versuchte zu lernen, damit zurechtzukommen.
Durch die angespannte Lage im Hotel blieb ihm sogar mehr Zeit zur Rückbesinnung auf sich selbst. So arbeitete er wieder an seinen Memoiren, kramte aus dem Gedächtnis scheinbar nebensächliche Erinnerungen hervor. Zum Beispiel an den lindgrünen Mercedes des Landarztes, der im Dorf auch Hausbesuche machte. Dieser Mercedes hatte sogenannte Panorama-Scheiben. Sie waren groß und standen fast aufrecht, und es musste im Sommer in Autos mit solchen Scheiben recht heiß gewesen sein. Erinnerungen wie Wetterleuchten – eifrig notierte er sie sich, voller Angst, sie könnten allzu rasch wieder verblassen.
In den wenigen Stunden, die ihm in diesen Tagen mit Carlotta blieben, unternahmen sie Spaziergänge oder liebten sich hektisch. Carlotta war vollkommen überdreht. „Sag, dass du mich liebst“, forderte sie.
Er lächelte. „Aber das weißt du doch.“