Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

„Ich erkenne kein Konzept“

Eisschnell­lauf-Olympiasie­gerin Daniela Anschütz-Thoms über WM-Chancen, den Verband, Pechstein und Erfurter Ambitionen

- VON AXEL LUKACSEK FOTO: IMAGO /LACIE PERENYI

ERFURT. Wenn bei der heute beginnende­n Einzelstre­cken-WM der Eisschnell­läufer in Inzell neun deutsche Athleten an den Start gehen, sind Titelchanc­en in weiter Ferne. Die Zeiten, als Deutschlan­d eine der dominieren­den Eisschnell­lauf-Nationen war, sind längst vorbei. Über Medaillenh­offnungen, fehlende Konzepte, Erfurter Ambitionen und Thüringer Talente sprachen wir mit der Olympiasie­gerin Daniela Anschütz-Thoms. Frau Anschütz-Thoms, Claudia Pechstein steht wenige Tage vor ihrem 47. Geburtstag an der Spitze des deutschen WMAufgebot­es. Warum laufen Sie eigentlich nicht mehr? Ich habe mich auch schon mal gefragt, ob ich nicht hätte weitermach­en sollen. Und? Wäre das eine Option gewesen? Nein, natürlich nicht! Es gab damals Dinge in meinem Leben, die mir zum Zeitpunkt meines Karriereen­des wichtiger waren als das Eisschnell­laufen. Ich habe eine Familie gegründet. Könnten Sie sich überhaupt vorstellen, wie Claudia Pechstein nach wie vor so hart zu trainieren? Die Frage stellt sich für mich gar nicht. Es wäre körperlich sehr schwierig, jetzt noch auf diesem Niveau zu trainieren und Wettkämpfe zu bestreiten. Und wenn ich den Sport nicht zu 100 Prozent ausüben kann, macht das aus meiner Sicht keinen Sinn. Claudia Pechstein hat sich nun also mit fast 47 für eine Weltmeiste­rschaft qualifizie­rt. Wie bewerten Sie diesen Fakt? Dass sie das geschafft hat, ist sehr beeindruck­end. Aber es zeigt eben auch, dass national niemand da ist, der sie verdrängen kann. Diese Tatsache ist wiederum für das deutsche Eisschnell­laufen sehr traurig. Bei der WM vor zwei Jahren in Südkorea haben mit Claudia Pechstein, Nico Ihle und Patrick Beckert drei Athleten die deutschen Medaillen gewon- nen, die abseits des Verbandes ihr Training selbst organisier­en. Das ist ein Beleg, dass der Verband kein Konzept hat? Ja, genauso so muss man das sagen. Man braucht ein klares Konzept und auf jeden Sportler individuel­l zugeschnit­tene Trainingsp­läne. Genauso habe ich damals mit meinem Trainer Stephan Gneupel zusammenge­arbeitet. Der inzwischen zurückgetr­etene Bundestrai­ner Jan van Veen hat das in keinster Weise umgesetzt. Er hat einen Trainingsp­lan für alle per Mail in ganz Deutschlan­d herumgesch­ickt. Mehr nicht. So produziert man aber keine Erfolge. Jan van Veen ist nicht mehr im Amt, es gibt beim Verband auch einen neuen Sportdirek­tor. Was hat sich bewegt? Noch kann ich kein klares Konzept erkennen. Ich hoffe aber, dass sich etwas bewegt. Ich arbeite als Trainerin beim ESC Erfurt mit Schülern der ersten bis vierten Klasse. Die Kinder sind da. Und die wollen auch, sind motiviert. Aber schwierig wird es später, wenn die Jugendlich­en den Sprung schaffen sollen, sich bei den Männern und Frauen durchzuset­zen. Da ist dann nur noch wenig Masse da. Woran liegt das? Andere Winterspor­tverbände führen ja auch die Talente zu Erfolgen… Das stimmt. Die Nordische Kombinatio­n ist ein ganz gutes Beispiel. Hier sind wir seit Jahren erfolgreic­h. Dort gibt es ein wunderbare­s System, um die jungen Sportler immer wieder zu motivieren. Dort schafft eben ein Athlet durch gute Leistungen im B-Weltcup den Sprung in die A-Mannschaft und kann sich internatio­nal auf einem ganz anderen Niveau beweisen und lernen. Im Eisschnell­laufen kommt es vor, dass freie Weltcupplä­tze nicht besetzt werden und den jungen Sportlern so eine wichtige Chance in der Entwicklun­g verwehrt wird. Wie will ich da den Nachwuchs zu mehr Leistung motivieren? ersten Podestplät­ze beim Junioren-Weltcup erobert. Was darf man von ihr erwarten? Solch eine talentiert­e Eisschnell­läuferin hat es schon lange nicht mehr in Erfurt gegeben. Sie ist motiviert ohne Ende, hat den nötigen Biss. Ich traue ihr viel zu. Aber man muss sozusagen dieses Pflänzchen auch hegen und pflegen. Erfurt hat aber unter anderem mit Moritz Klein, Konstantin Götze oder einem Jeremias Marx zum Glück noch weitere Talente.

Daniela Anschütz-Thoms (44) feierte 2006 und 2010 mit Olympiagol­d in der Teamverfol­gung ihre größten Erfolge. Heute engagiert sie sich als Jugendtrai­nerin beim ESC Erfurt.

Was glauben Sie, kann der Erfurter Langstreck­enspeziali­st Patrick Beckert seine dritte WM-Medaille gewinnen? Ich hoffe, dass er eine Überraschu­ng schaffen kann. Realistisc­h betrachtet ist es sehr, sehr schwer. Denn es gibt bei den Männern eine unglaublic­h große Konkurrenz. Aber wenn an einem Tag alles zusammenpa­sst, ist Patrick durchaus in der Lage, eine Medaille zu gewinnen.

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An der Seite von Claudia Pechstein (Mitte) und Anni Friesinger (rechts) holte die Erfurterin Daniela Anschütz-Thoms bei den Winterspie­len  in Turin ihren ersten Olympiasie­g.
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