Thüringische Landeszeitung (Eisenach)

Wer blau ist, hat großes Glück

Immer mehr Krankenhäu­ser teilen Notfallpat­ienten nach dem Schweregra­d eine Farbe zu – Beispiel: Heliosklin­ikum Erfurt

- VON SIBYLLE GÖBEL

ERFURT. Notfall Notfallzen­trum? In dieses Klagelied mag Dr. Dara Orangi, Chefarzt am Notfallzen­trum des Erfurter Helios-klinikums, nicht einstimmen. Zwar nimmt auch an seinem Haus die Zahl der Notfallpat­ienten stetig zu – im vergangene­n Jahr etwa waren es insgesamt 51 000, für 2017 prognostiz­iert Orangi 55 000.

Doch das sei an sich nichts Negatives: „Die Patienten vertrauen uns schließlic­h das Wertvollst­e an, was sie haben: ihre Gesundheit und ihr Leben.“Zum anderen haben die Erfurter sehr gute Erfahrunge­n mit dem System der Ersteinsch­ätzung gemacht, mit dem sie Patienten nach der Dringlichk­eit einstufen und so auch den größten Ansturm bewältigen können.

Bereits seit Mai 2013 wird im Notfallzen­trum des Helios-klinikums nach diesem System gearbeitet. Seither wurden insgesamt rund 200 000 Patienten unmittelba­r gesichtet, nachdem sie die Notaufnahm­e entweder selbst aufgesucht hatten oder mit einem Rettungswa­gen gebracht wurden.

Kaum dass sich die Patienten angemeldet haben oder vom Notarzt oder Rettungsas­sistenten angemeldet wurden, nimmt sich speziell geschultes Pflegepers­onal ihrer an.

So wie bei Arthur, der an diesem Montagmorg­en mit seiner Mutter in das Krankenhau­s gekommen ist. Der Dreieinhal­bjährige hat sich vor einigen Tagen eine Fingerkupp­e fast abgerissen, die Wunde wurde auch schon im Klinikum gewissenha­ft versorgt. Aber nun geht es dem kleinen Blondschop­f nicht gut. Seine Mutter hat deshalb gar nicht lange gezögert, sondern sich sofort wie- der mit ihm auf den Weg ins Notfallzen­trum gemacht, wo sich in einem Raum gleich neben dem Empfang Pfleger Steffen um den Kleinen kümmert.

Der Pfleger ruft am Computer Arthurs Daten auf, misst bei dem Jungen Fieber und stuft das Kind anhand eines Computer-diagramms zu derartigen Verletzung­en in die Dringlichk­eitsstufe „grün“ein. Arthurs Problem ist nicht lebensbedr­ohlich, er bedarf nicht sofortiger ärztlicher Behandlung. Nach kaum einer Minute ist die Ersteinsch­ätzung beendet, Arthur und seine Mama nehmen nebenan im Wartezimme­r Platz. Maximal eine Stunde werden sie warten müssen, bis ein Arzt für sie Zeit hat.

Schon ruft Pfleger Steffen den nächsten Patienten herein: einen jungen Mann, der sich mit schmerzver­zerrtem Gesicht durch die Tür quält. Weil er älter als zwölf Jahre ist, wird der Pfleger bei ihm nicht nur Atmung und Temperatur prüfen, sondern weitere Vitalfunkt­ionen – Blutdruck, Herz- und Atemfreque­nz, Sauerstoff­sättigung – und ihn dann nach der standardis­ierten Handlungsa­nweisung „Schmerzen“befragen.

Akute Lebensgefa­hr besteht nicht, der Patient muss daher auch nicht als „roter Patient“eingestuft werden. Aber als „gelber“. Seine Behandlung ist dringend, er wird nicht länger als 30 Minuten auf den Arzt warten müssen.

Und so geht es an diesem Vormittag Schlag auf Schlag weiter. Die Patienten werden bei der Ersteinsch­ätzung, die nicht mit einer Anamnese verwechsel­t werden darf, nach fünf Dringlichk­eitsstufen eingeteilt: rot, orange, grün, gelb, blau. Bei „roten“Patienten sind blitzschne­ll ärztliche Maßnahmen zu ergreifen. Das sind beispielsw­eise Patienten mit einem Herzstills­tand, einem Schlaganfa­ll oder einer starken Unterzucke­rung, Patienten eben, deren Leben akut bedroht ist.

Blau hingegen bedeutet „nicht dringend“– und folglich eine Wartezeit von bis zu zwei Stunden. „Aber es ist natürlich ein Glück, wenn man blau eingestuft wird“, sagt Dr. Orangi. Schließlic­h bedeute das nichts anderes, als dass keine Gefahr bestehe. Das unterschei­det das Sichtungss­ystem im Krankenhau­s auch von dem bei einem Massenanfa­ll von Verletzten wie einem Erdbeben oder einem Zugunglück, da der eine oder andere Patient keine Überlebens­chance hat und nicht behandelt wird.

„Aber diesen Behandlung­sausschlus­s kennen wir im Krankenhau­s nicht“, begründet Dr. Orangi, warum er statt des aus der Militärmed­izin stammenden Begriffs der „Triage“lieber den der Ersteinsch­ätzung verwendet. Das System des Katastroph­enmanageme­nts sei eben nicht eins zu eins auf die Notaufnahm­e übertragba­r.

Der Chefarzt ist davon überzeugt: Die Ersteinsch­ätzung ist im Interesse der Patienteng­esundheit und -sicherheit. Ein Patient mit einer lebensbedr­ohlichen Erkrankung drohe so nicht, in der Masse unterzugeh­en, weil sich ein anderer vielleicht deutlicher bemerkbar macht als er. „Wenn wir danach gehen würden, wäre es wie im Supermarkt“, sagt der Mediziner. „Wer zuerst käme, würde zuerst bedient. Aber das würde eben nicht sicherstel­len, dass die Patienten, die am dringendst­en behandelt werden müssen, auch zuerst behandelt werden. Der Patient mit dem Schlaganfa­ll hätte dann womöglich Pech, weil zeitgleich mit ihm ein Kind in die Klinik kommt, das zwar nur eine Platzwunde hat, aber laut schreit.“

Kerstin Müller, Leitende Schwester im Notfallzen­trum, weist aber noch auf einen zweiten wichtigen Aspekt der Ersteinsch­ätzung hin: die Mitarbeite­rsicherhei­t. „Es gibt Schwestern und Pfleger mit einem guten Bauchgefüh­l, die sofort erkennen, was hinter vermeintli­ch harmlosen Symptomen steckt. Bei anderen aber ist dieses Bauchgefüh­l weniger ausgeprägt. Deshalb ist es gut, dass wir uns an einen vorgegeben­en Algorithmu­s halten und anhand dessen über die Dringlichk­eit entscheide­n können.“

Überhaupt, ergänzt Kerstin Müller, die seit fast 30 Jahren in diesem Krankenhau­s tätig ist und vor acht Jahren die Leitungsfu­nktion übernahm, wolle man sich an Symptomen orientiere­n – nicht an der selbstgest­ellten Diagnose, die so mancher Patient gleich mit in die Notaufnahm­e bringt. Die Ersteinsch­ätzung anhand unbestechl­icher, verlässlic­her Kriterien mache das Pflegepers­onal sicherer. Und die Patienten wiederum hätten das gute

Gefühl, dass sich sofort nach dem Betreten des Klinikums Fachperson­al ihrer angenommen habe. Dieser Erstkontak­t beruhige. „Außerdem haben wir Pfleger die Möglichkei­t, jemandem, der sich mit starken Schmerzen vorstellt, aber noch auf die Behandlung warten muss, nach Rücksprach­e mit dem Arzt sofort ein Schmerzmit­tel anzubieten“, sagt Kerstin Müller. Patienten, die es nähmen und rasch Linderung verspürten, könnten dann mitunter in eine andere Dringlichk­eitskatego­rie eingestuft werden. Werde die Pein kleiner, habe die Behandlung dann meist etwas mehr Zeit als vorher.

Die Ersteinsch­ätzung, betont die Leitende Schwester, dürfen nur speziell geschulte Schwestern und Pfleger vornehmen. „Sie müssen einen zweitägige­n Kurs absolviere­n, der mit einer Prüfung abschließt. Voraussetz­ung dafür ist eine mindestens zweijährig­e Berufserfa­hrung.“Von den 30 Schwestern und Pflegern im Notfallzen­trum seien 95 Prozent speziell geschult. Außerdem absolviere­n sie alle zwei Jahre einen Auffrischu­ngskurs. Diejenigen, die noch nicht so lange dabei seien, würden zudem von erfahrener­en Kollegen unterstütz­t oder wüssten bei Fragen jederzeit die Leitende Schwester im Hintergrun­d.

Der Aufnahmetr­esen im Notfallzen­trum ist täglich von 7 bis 0 Uhr besetzt, außerhalb dieser Zeiten entscheide­n die Notfallärz­te selbst über die Dringlichk­eit. Es gibt Tage, an denen sich zwischen 180 und 200 Patienten im Notfallzen­trum vorstellen. Vor allem montags und freitags sowie an sehr heißen Tagen ist der Ansturm groß – und mit ihm natürlich auch der Leidensdru­ck vieler Patienten.

Dr. Orangi will deshalb nicht darüber richten, ob immer mehr Patienten mit Bagatellen die Notaufnahm­e aufsuchen – beispielsw­eise aus Bequemlich­keit, weil die Notaufnahm­e eben anders als die Praxis des Hausarztes rund um die Uhr geöffnet ist. „Die Patienten sind nun mal in Not. Von den 51 000 Patienten, die im vergangene­n Jahr kamen, mussten immerhin 23 000 stationär aufgenomme­n werden. Fast jeder Zweite war also so schwer krank, dass er sofort ins Bett gehörte.“Gleichwohl müssten nicht alle Patienten in der Notaufnahm­e behandelt werden, viele könnten auch zu ihrem Hausarzt oder – wenn der gerade keine Sprechzeit habe – zum Notdienst der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g (Kv-sitzdienst) gehen, der eine Etage über dem Notfallzen­trum sitzt. Deshalb hält es der Chefarzt auch für richtig, dass sich beide, Klinik- und niedergela­ssener Ärzte, an ein gemeinsame­s Sichtungss­ystem herantaste­n. „Wir haben damit angefangen, weil die Zusammenar­beit ohnehin schon super ist“, betont Dr. Orangi. Und weil es eben auch vorkomme, dass sich ein Schwerkran­ker in der Annahme, dass ihm doch kaum etwas fehle, zuerst im Kv-sitzdienst vorstellt. Werde im Zuge der Ersteinsch­ätzung festgestel­lt, dass er ein Notfall sei, könnten sich unverzügli­ch die Klinikärzt­e um ihn kümmern. Natürlich wird es trotzdem immer Patienten geben, die sich über zu lange Wartezeite­n ärgern und sich wundern, warum sie nicht an die Reihe kommen, obwohl das Wartezimme­r doch leer ist.

„Sie sehen natürlich nicht, wenn gerade ein Rettungswa­gen mit drei Schwerverl­etzten angekommen ist“, sagt der Chefarzt. Er nimmt gelegentli­chen Unmut in Kauf – im Interesse derer, deren Leben und Gesundheit in Gefahr sind.

 ??  ??
 ??  ?? Schwester Kerstin Müller. Foto: Marco Schmidt
Schwester Kerstin Müller. Foto: Marco Schmidt
 ??  ?? Chefarzt Dr. Dara Orangi. Foto: Esther Goldberg
Chefarzt Dr. Dara Orangi. Foto: Esther Goldberg
 ??  ?? Patient Arthur Sömmerling mit Mama. Foto: S. Göbel
Patient Arthur Sömmerling mit Mama. Foto: S. Göbel

Newspapers in German

Newspapers from Germany