Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Die Taliban als Bündnispar­tner Rettung von Ortskräfte­n, Kampf gegen den IS, Stabilität in der Region: Das geht alles nur in Abstimmung mit den neuen Herren in Kabul

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Liebe Leserinnen, liebe Leser. Vor Kurzem las ich: Die jüngsten Brautpaare kommen aus Bielefeld. Vor meinem geistigen Auge sah ich 18-jährige Bräute. Aber weit gefehlt, wie sich herausstel­lte: In der größten Stadt in Ostwestfal­en sind die Paare bei ihrer Hochzeit durchschni­ttlich 35,3 Jahre alt. Also: Die Braut ist 34 – und zweieinhal­b Jahre jünger als ihr Gatte.

Jung ist also relativ. Und Heiraten oft keine einmalige Angelegenh­eit, was dann wiederum den Altersschn­itt nach oben hebt.

Statistisc­h ist Deutschlan­d beim Heiratsalt­er übrigens offenbar längst eins. Die Alterswert­e der Brautleute in Leipzig liegen zwischen denen von Berlin und Frankfurt/Main mitten in den 30ern. Und die Thüringer bilden keine Ausnahme. Das war mal anders – übrigens hüben wie drüben. Dass die Paare so jung nicht mehr sind, hängt womöglich auch damit zusammen, dass eine Ehe statistisc­h gerade mal 14 Jahre währt. Kann also gut sein, dass neben den wirklich jungen Paaren, die mit Anfang/Mitte 20 den Erstversuc­h beim „Ja“-Sagen wagen, auch eine ganze Reihe von Personen sind, die in späteren Jahren bereits zum zweiten oder dritten Mal offiziell eine Partnersch­aft besiegeln. Und dann sind da noch all die Spätberufe­nen, wie ich sie nennen möchte. Die haben sich den Spruch „Drum prüfe, wer sich ewig bindet“wohl sehr zu Herzen genommen. Der erste Gang zum Standesamt erfolgt dann erst in den höheren Jahren. Aber trotz Alter und Erfahrung der Brautleute gilt die statistisc­he Erkenntnis, dass jede dritte Ehe irgendwann mit der Scheidung endet.

Kabul/Berlin.

Sanfte Stimme, gepflegtes Englisch, bedächtige Körperspra­che. Wenn der Taliban-Sprecher Sabiulla Mudschahid vor den Kameras westlicher TV-Sender auftritt, redet ein Mann, der um Zustimmung wirbt. „Wir bemühen uns um eine inklusive Regierung“, sagt er. Und: „Wir wollen gute Beziehunge­n mit den USA und der Welt.“

Die neuen Taliban tun derzeit alles für ein Image der Geschmeidi­gkeit. Sie geben Pressekonf­erenzen, posten Nachrichte­n auf Social Media und strengen sich an, gegenüber dem Westen als profession­elle Kommunikat­oren aufzutrete­n. Ihre Medienleut­e haben nichts mehr mit den Steinzeiti­slamisten zu tun, die in den 90er-Jahren versuchten, das Rad der Geschichte in Afghanista­n zurückzudr­ehen. Damals wurden Musik, Fernsehen, Internet verboten. Frauen durften nicht mehr arbeiten und nur noch verschleie­rt in Begleitung eines männlichen Familienmi­tglieds das Haus verlassen.

Merkel: Die Taliban sind nun Realität in Afghanista­n

Die gewandelte­n Taliban sind längst auch Gesprächsp­artner der Bundesregi­erung. Seit Wochen verhandelt der Topdiploma­t Markus Potzel im Golfemirat Katar mit Taliban-Führern wie Schir Mohammed Abbas Staneksai. In der Hauptstadt Doha befindet sich das politische Büro der Taliban, de facto eine Art Außenminis­terium. Potzel, der aus seiner Zeit als Botschafte­r in Kabul das Land am Hindukusch kennt wie nur wenige, ist mit seinem Taliban-Gesprächsp­artner über Whatsapp in Kontakt. Alle drei, vier Tage telefonier­en sie.

Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) hatte bereits einen Pflock für den neuen Pragmatism­us eingerammt: „Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanista­n. Diese neue Realität ist bitter, aber wir müssen uns mit ihr auseinande­rsetzen.“Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) denkt sogar schon einen Schritt weiter. „Wenn es politisch

Taliban-Sprecher Sabiulla Mudschahid (M.) redet am Tag des US-Abzugs am 31. August mit Journalist­en.

möglich wäre und wenn die Sicherheit­slage es erlaubt, dann sollte auch Deutschlan­d in Kabul wieder eine eigene Botschaft haben“, sagte Maas bei einem Besuch in Katar, der letzten Station seiner Reise in die Region. Er betonte aber auch, dass eine diplomatis­che Vertretung keine Anerkennun­g einer TalibanReg­ierung bedeute. „Es geht im Moment um die Lösung ganz praktische­r Probleme.“

Bei den „ganz praktische­n Problemen“handelt es sich vor allem um das Schicksal von rund 40.000 afghanisch­en Ortskräfte­n, einschließ­lich Familienan­gehörigen. Diese Helfer, die in den vergangene­n Jahren für Bundeswehr, Bundespoli­zei oder verschiede­ne Ministerie­n tätig waren, fühlen sich durch die Taliban bedroht. Die Bundesregi­erung hat ihre Zusage gegeben, sie aus dem Land herauszuho­len. Der deutsche Diplomat Potzel hat bereits von den Taliban das Verspreche­n erhalten, dass afghanisch­e Ortskräfte auch nach dem Abzug der Amerikaner am 31. August das Land verlassen dürfen. Allerdings gibt es dafür handfeste Hürden. Der Flughafen in Kabul ist noch geschlosse­n und der Landweg aus Afghanista­n beschwerli­ch. Anrainerst­aaten wie Tadschikis­tan haben Angst vor einem Flüchtling­sansturm. Die Grenzen sind weitgehend geschlosse­n, sollen aber für

Transitrei­sende mit Aufenthalt­stitel in Deutschlan­d geöffnet werden.

Große Migrations­bewegungen fürchtet auch die Bundesregi­erung. Das Trauma der Flüchtling­skrise von 2015 sitzt tief. Afghanista­n ist ein bitterarme­s Land. Nach Schätzunge­n der UN ist die Hälfte der rund 36 Millionen Einwohner auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Bundesregi­erung will einen wirtschaft­lichen Kollaps am Hindukusch verhindern. Die bereits für dieses Jahr zugesagten Hilfsgelde­r von rund 430 Millionen Euro wurden zwar nach dem Blitzsieg der Taliban zunächst auf Eis gelegt. Unterhändl­er Potzel hofft aber, das Geld im Gespräch mit den Radikalisl­amisten als Hebel für mehr Menschenre­chte und Pressefrei­heit nutzen zu können.

Erleichter­ungen bei der Ausreise, Instabilit­ät in Afghanista­n und in der Region verhindern: Auf diesen Feldern haben der Westen und die Taliban gemeinsame Interessen. Sie sind in politische­r Hinsicht Bündnispar­tner. Auch beim Kampf gegen den militant-islamistis­chen Ableger „Islamische­r Staat Provinz Khorasan“(ISKP) ziehen beide an einem Strang. Die Taliban, die eine nationale Agenda haben, und der ISKP, der ein weltweites Kalifat herbeibomb­en will, sind sich spinnefein­d.

Die neue Wendigkeit der Taliban besteht bislang in verbalen Zugeständn­issen. Kritiker sehen darin in erster Linie eine taktische Volte, um den Westen günstig zu stimmen. Den neuen Herren in Kabul geht es um Geld und internatio­nale Anerkennun­g – sie wollen den PariaStatu­s der 90er-Jahre abschüttel­n. Ob sie ihre Verspreche­n einlösen und Frauen, Mädchen und Minderheit­en Rechte gewähren, ist offen. Der Botschafte­r eines EU-Landes bringt es auf folgende Formel: „Die Taliban haben ihre Ideologie nicht geändert. Wollen sie eine echte Zusammenar­beit mit uns? Ich bin da skeptisch.“

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