Thüringische Landeszeitung (Eichsfeld)

Leben, selbstbest­immt

Warum Kathrin Fickardt ein Event organisier­t, um auf Assistenz für Menschen mit Behinderun­g aufmerksam zu machen

- VON ELENA RAUCH

HELDRUNGEN. Zum Kaffee gibt es Kirschkuch­en. Danny Hendrich hat ihn gebacken, aber die Anleitung kam von ihr. Exakt so, wie sie es tun würde, wenn ihre Hände die Kraft dazu hätten.

Progressiv­e Muskeldyst­rophie ist eine Erbkrankhe­it mit fortschrei­tender Muskelschw­äche. Diese Diagnose begleitet Kathrin Fickardts Leben, seit sie Kind ist. Sie kann ihren Rollstuhl nicht allein bewegen, nicht allein essen, nicht trinken... Sie braucht für jede Alltäglich­keit eine helfende Hand. Ich bin, sagt Danny Hendrich, Kathrins Hände und Beine. Aber meinen Kopf, bemerkt sie heiter, behalte ich. Solche Sätze sagt sie gern.

Nächstens fahren sie nach Chemnitz, um sich ein Haus anzusehen, wo im kommenden Jahr die Kindersing­ewoche stattfinde­n soll. Die Golgathage­meinde Heldrungen bietet das jedes Jahr für Kinder mit und ohne Behinderun­g an. Kathrin Fickardt organisier­t diese Woche, von der Suche eines geeigneten Ortes bis zum gemeinsame­n Einstudier­en des Singspiels. Seit 20 Jahren schon.

So viel selbstbest­immtes Leben wie jetzt hatte ich früher nie. Es klingt immer noch ein wenig verwundert, wie sie das sagt. Dieses „früher“ist keine zwei Jahre her. Als sie das persönlich­e Budget noch nicht hatte, das ihr die Anstellung von vier Assistenzh­ilfen ermöglicht.

Selbst bestimmen, was man einkauft, kocht und wann. Ob man ins Kino möchte, wann man ins Bett will und wann aufstehen. Sich spontan mit Freunden treffen zu können. Und selbst bestimmen, wer einen anzieht, wäscht, das Essen reicht.

Das ist ihr Recht. So steht es in der Un-konvention über die Rechte behinderte­r Menschen. Der Gesetzgebe­r hat dafür das persönlich­e Budget geschaffen. Geld, mit dem sie Hilfen bezahlt, die sie für diese Selbstbest­immung braucht.

Viele Jahre hatte ihre Mutter übernommen, was jetzt ihre Assistenz tut. Als sich abzeichnet­e, dass die Mutter, damals schon über 80, das nicht mehr schaffen konnte, hatte sie beim Sozialamt dieses Budget beantragt. Sie lehnten ab, die 10 000 Euro, die sie monatlich für ihre Assistenz rund um die Uhr veranschla­gte, seien zu viel. So etwas habe es hier noch nie gegeben. 2500 Euro, maximal. Sie könne, sagte man ihr, ja eine Hilfskraft aus dem Osten einstellen für das Geld. Oder man wüsste da ein gutes Pflegeheim bei Leipzig...

Es war übrigens die Zeit, als sie für ihre ehrenamtli­che Mühe um die Kindersing­ewoche den Thüringer Engagement­spreis erhielt. Mann muss viel Disziplin aufbringen, um dabei nicht zynisch zu werden.

Sie klagte, der Richter am Sozialgeri­cht in Nordhausen gab ihr recht. Eine 24-Stunden-assistenz zum Mindestloh­n, so lautete der Vergleich. Ihr war klar, dass diese Rechnung nicht voll aufgehen konnte. Weil sie die Hilfe rund um die Uhr braucht, weil auch Assistente­n Urlaub haben und krank werden und weil sie beim Aufstehen und zu Bett gehen vier helfende Hände braucht. Außerdem: Du musst erst einmal jemanden finden, sagt sie, der für Mindestloh­n diese Arbeit macht. Danny Hendrich zum Beispiel ist Musiker, der eine versicheru­ngspflicht­ige Arbeit suchte. Für seine Assistenz bekommt er im Monat knapp 1100 Euro netto. Kathrin Fickardt ging diesen Kompromiss mit dem Sozialamt damals ein, weil die Mutter krank war, sie hatte keine Wahl. Ohne diesen Kompromiss, sagt sie, gäbe es mich heute nicht mehr. Die Alternativ­e wäre das Heim gewesen und im Heim ist kein Leben für mich. Das war im August 2016.

Um die Löcher in der Finanzieru­ng ihrer Assistenz zu stopfen, musste sie sich Geld bei Freunden borgen. Ein Jahr lang lieferte sie sich mit dem Sozialamt Briefwechs­el und Wortgefech­te. Inzwischen bezahlt das Sozialamt wenigstens den Urlaub der Assistente­n und einige Krankentag­e. Aber auf den 8000 Euro Schulden sitzt sie bis heute. Und mehr als Mindestloh­n kann sie bis heute nicht zahlen, auch keine Zuschläge für Dienste an Wochenende­n.

Für die Hilfe am Morgen und am Abend kommt zusätzlich eine Nachbarin. Um die 450 Euro, die Kathrin Fickardt ihr dafür zahlt, aus dem Budget abzuzweige­n, bleibt sie an zwei Tagen in der Woche für einige Stunden ohne Assistenz. Manchmal kommen Freunde, aber das klappt nicht immer.

Sie weiß, dass andere Sozialämte­r anders entscheide­n. Für das persönlich­e Budget gibt es keine Obergrenze, weil jeder Mensch mit Behinderun­g individuel­le Bedürfniss­e hat. Sie weiß aber auch, dass sie lange kein Einzelfall ist. Dass sich viele Menschen mit Behinderun­g am Kampf um die ausreichen­de Finanzieru­ng einer Assistenz abarbeiten. Oder auch nicht und irgendwann aufgeben.

Es kann nicht sein, dass solche Entscheidu­ngen vom Gutdünken einzelner Ämter abhängen, sagt sie. Oder vom Durchsetzu­ngswillen der Betroffene­n.

Das sagt auch Danny Hendrich. Er kennt solche Fälle aus Gesprächen mit Kollegen von einem berufliche­n Stammtisch.

Aber Kathrin Fickardt will nicht jammern. Das hat sie noch nie. Statt dessen tut sie, was sie gut kann: organisier­en und Menschen zusammenbr­ingen. Am 18. Mai will sie mit Freunden und Musikern im Erfurter Stadtgarte­n auf die Problemlag­e aufmerksam machen.

Danny Hendrich wird natürlich auch dabei sein. Auch weil er weiß, wie groß die Informatio­nslücken sind. Kürzlich, erzählt er, habe er einen Schlagzeug­er kennengele­rnt. Weil er blind ist, fährt ihn seine Großmutter zu den Proben. Von einem persönlich­en Budget und einer Assistenz hatte er noch nie gehört.

Am Freitag, . Mai, findet im Stadtgarte­n Erfurt ab  Uhr eine Veranstalt­ung rund um das Thema „persönlich­e Assistenz“statt.

 ??  ?? Kathrin Fickardt und Danny Hendrich. Seine Assistenz bezahlt sie aus dem persönlich­en Budget für Menschen mit Behinderun­g, das ihr zusteht. Foto: Elena Rauch
Kathrin Fickardt und Danny Hendrich. Seine Assistenz bezahlt sie aus dem persönlich­en Budget für Menschen mit Behinderun­g, das ihr zusteht. Foto: Elena Rauch

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