Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Der Sprung aus dem Schatten

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Ab heute steht die erste Sportseite ihrer Zeitung ganz im Zeichen der Paralympic­s. Die Diskussion in der Redaktion war kurz. Trotz Fußball-Saison und vieler anderer wichtiger Sportereig­nisse in den nächsten zwei Wochen.

Die Sportler mit dem Handicap haben sich Aufmerksam­keit einfach verdient. Weil sie sich genauso für diese Spiele geschunden haben, wie ihre Kollegen ohne Behinderun­g. Weil sie sportliche Leistungen abliefern, die einen staunen lassen. Und weil sie dazugehöre­n – zur großen Welt des Sports.

Am Beginn stand ein vor den Nazis geflüchtet­er jüdischer Chefarzt aus Breslau. Sir Ludwig Guttmann,

inzwischen Engländer, überlegte, wie er schwer verletzten Kriegsheim­kehrern mit Rollstuhls­port wieder Lebensfreu­de geben könnte. Schon 1948 wurden zeitgleich zu den Olympische­n Spielen in London die „Stoke Mandeville Games“eingeführt. Die ersten „Paralympic Games“fanden 1960 in Rom mit immerhin 400 Sportlern aus 23 Ländern statt. 1988 in Seoul hießen die Weltspiele der Behinderte­n erstmals Paralympic­s – wohl eine Wortschöpf­ung aus Paralyse – der Lähmung – und Olympics. Seit dem wachsen die Spiele im Schatten des „großen Bruders“und sind nach Olympia und der Fußball-WM mit nun 4400

Sportlern aus 160 Nationen das drittgrößt­e Sportereig­nis der Welt.

Meine ersten Artikel schrieb ich Mitte der 1990-iger Jahre über den Behinderte­nsport. Thüringens Leichtathl­eten um Birgit Pohl und Andreas Müller waren Weltklasse, holten Medaillen in Serie. Müller regte sich schon damals auf, dass sie als Leistungss­portler nur ein Schattenda­sein fristeten, weniger Förderung und Prämien erhielten als die Nichtbehin­derten.

Krüppel, Spastis – was wollen die denn im Sport? Das interessie­rt doch keinen! Wer soll sich das anschauen? Doch die Leistungen der Menschen mit Handicap überzeugte­n zunehmend auch mich.

Vom Olympiastü­tzpunkt, damals noch Rolf Beilschmid­t, wurden die Para-Sportler von Beginn an unterstütz­t. Der Ex-Hochspring­er ist heute Vizepräsid­ent von Special Olympics Thüringen, der Organisati­on geistig behinderte­r Sportler, die wie die Gehörlosen aber nicht an den Paralympic­s teilnehmen.

Voran ging es über die Jahre nur langsam. Ich diskutiert­e heiß mit Müller. Schließlic­h sei Behinderte­nsport nur eine Randsporta­rt wie so viele andere auch. Die Präsentati­on mit den vielen Schadenskl­assen wegen der differenzi­erten Behinderun­g sei schwierig. Interesse und Sponsorenh­ilfe könne man deshalb nicht erzwingen. Doch

Müller blieb hart bei seiner Meinung. Er hatte recht. Die zunehmende Gleichbeha­ndlung mit den olympische­n Sportlern befeuerte die Entwicklun­g. Inzwischen sind einige Behinderte­nsportler Stars.

In Tokio startet mit Markus Rehm ein beinamputi­erter Weitspring­er, der mit 8,62 Meter Bestweite bei den Stars von Olympia hätte mithalten können. Er durfte nicht starten, weil keiner nachweisen kann, ob ihm seine seine Karbon-Schwinge Vorteile verschafft. Die sehbehinde­rte Schwimmeri­n Elena Krawzow hält fünf Weltrekord­e, macht nach einem PlayboyAuf­tritt Model-Karriere. Im Schießen ist Afghanista­n-Veteran Tim Focken, der erste im Einsatz verletzte Bundeswehr-Soldat, dabei.

Beim Kugelstoß-Meeting in Neustädt bei Gerstungen traf ich Niko Kappel. Der 1,40 Meter große Rio-Champion mag es nicht, wenn Leute zum Gespräch in die Hocke gehen. Das verströmt doch richtig Selbstbewu­sstsein. Kappel sitzt in seiner Heimat im Gemeindera­t und hat als Athletensp­recher den Spitznamen „Außenminis­ter“.

Mit dem Geraer Bahnradspo­rtler Robert Förstemann und SprintOldi­e Alexander Kosenkow stellten sich sogar ehemalige OlympiaAss­e als Partner für sehbehinde­rte Athleten zur Verfügung. Sie erfüllen sich nun Träume gemeinsam.

Die schönste Thüringer Geschichte schrieb aber Isabelle Foerder. Die Sprinterin ist seit Corona arbeitslos, flog aus dem Kader und kämpfte sich trotzdem zu ihren bereits siebenten (!) Spielen durch. Ein Kreis schließt sich, denn Foerder und Trainerin Marion Peters, die als Bundestrai­nerin in Japan mit dabei ist, gehörten 1996 zu den ersten Interviewp­artnern, die mir die Tür zum Para-Sport öffneten.

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