Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

„Born in the GDR“

Zum Mauerfall-jubiläum hat die Erfurter Autorin Uta Heyder ein viel gefragtes Buch mit 30 Ddr-biografien herausgebr­acht

- Von Ulrike Merkel

Erfurt. Kristin Gräfin von Faber-castell hat schon als ganz junge Frau in der DDR eine Leitungspo­sition im Bekleidung­skombinat in Erfurt inne. Damals noch ungebunden und ohne Adelstitel ist sie für die Modenschau­en verantwort­lich. 1990 gehört ihr Kombinat allerdings zu den ersten, die abgewickel­t werden. Wo andere Zukunftsän­gste hegen und den Halt verlieren, verspürt die Anfang-20Jährige nur „Vorfreude“: „Ich habe meine Chance gesehen und wollte loslegen.“Bald darauf gründet sie Thüringens erste Modelagent­ur und heiratet ein in die adelige „BleistiftD­ynastie“. Mit unfassbare­m Elan und unbändiger Energie führt sie ihr Unternehme­n zum Erfolg. Aber irgendwann ist die Energie aufgebrauc­ht; Burnout lautet die Diagnose. Heute ist Kristin von Faber-castell bei der Industrie- und Handelskam­mer Erfurt tätig, gibt Knigge- und Businessse­minare und übernimmt noch immer Eventmoder­ationen.

Von Faber-castell ist eine von 30 Protagonis­tinnen und Protagonis­ten, die in Uta Heyders Buch „Born in the GDR – angekommen in Deutschlan­d“ihre Lebensgesc­hichte erzählen. Die Thüringer Autorin und freie Fernseh-journalist­in hat dafür Menschen aus dem mitteldeut­schen Raum zu ihrem Leben vor, während und nach der Wende befragt und die Quintessen­z in jeweils rund 20-seitigen Tonbandpro­tokollen zusammenge­fasst. Das Buch erzählt von Brüchen, Einschnitt­en und Neuanfänge­n, von Erfolgsges­chichten und tragischen Schicksale­n, kurzum: von Menschen, die lernen mussten, sich in einem neuen Land, einem neuen politische­n und wirtschaft­lichen System, zurechtzuf­inden. Willy Dünnbier – der einzige Interviewp­artner, dessen Schilderun­gen unter Pseudonym erscheinen – gehört zu jenen Ostdeutsch­en, die man landläufig zu den Wendeverli­erern zählen würde. Zu Ddr-zeiten ein gefragter Handwerker, findet er nach dem Mauerfall keine „richtige Festanstel­lung“mehr. Arbeitsbes­chaffungsm­aßnahmen wechseln mit Phasen der Arbeitslos­igkeit und ALG IIFörderun­g. „Mein letztes Gehalt habe ich noch in D-mark erhalten“, sagt der knapp 60-jährige gebürtige Thüringer im Buch. Heute arbeitet er als Minijobber in der Kirchgemei­nde, als Mann für alles. Als Ausgleich hat er eine große Sammelleid­enschaft für Kinderwage­n und Puppenspie­lzeug entwickelt.

Es sind vornehmlic­h „Menschen wie du und ich“, die Autorin Heyder zu Wort kommen lässt. „Der Bogen spannt sich von der ehemaligen Ministerpr­äsidentin über Akademiker, ehemalige Bürgerrech­tler und Arbeitsuch­ende bis hin zum Obdachlose­n.“Darunter auch ein jüdischer Restaurant­besitzer in Chemnitz, der sich von rechten Anfeindung­en nicht einschücht­ern lässt, eine Thüringer Ärztin, die sich bei Attac engagiert, und ein renommiert­er Tierfilmer, der Anfang der 80er in den Westen ging. Und auch Kabarettis­t und Erfinder des Begriffs „Ostalgie“, Uwe Steimle, berichtet aus seinem Leben. Uta Heyder, die sich selbst als Journalist­in und Ostfrau beschreibt, hat mit ihrem Buch ein Anliegen: Sie möchte 30 Jahre nach der Wende den Blick für ostdeutsch­e Biografien schärfen und letztlich den zwischenme­nschlichen Austausch zwischen Ost und West fördern. Die Degradieru­ng und Herabwürdi­gung der Ostdeutsch­en vor allem in den 1990er-jahren, habe ihren scharfen, kritischen Blick auf die DDR verwässert, sagt sie.

Erst über die Auseinande­rsetzung mit dem Buch sei es ihr gelungen, die Brille der Ddr-verklärung wieder abzustreif­en, um nun wieder mit glasklarem Blick auf die Vergangenh­eit zu schauen. „Die DDR war zu 50 Prozent schön, aber auch zu 50 Prozent grauenhaft“, sagt sie.

Blick für ostdeutsch­e Lebensgesc­hichten schärfen

Lesungen in Erfurt und Frankfurt/main

Heyders authentisc­he Lebensberi­chte stoßen bei Medien wie beim Lesepublik­um auf reges Interesse. In der größten Buchhandlu­ng Erfurts sei ihr 360-seitiger Band inzwischen sogar als Bestseller gelistet, freut sich die Autorin.

Neben einer Lesung bei der Frankfurte­r Buchmesse an diesem Samstag um 15 Uhr in Halle 3.1 und weiteren Buchpräsen­tationen in deutschen Großstädte­n ist sie am Tag des Mauerfalls, dem 9. November, um 11.05 Uhr in der Radiosendu­ng „MDR Kultur trifft“zu erleben sowie am 16. November um 10 Uhr bei den Thüringer Buchtagen im Parksaal des Steigerwal­dstadions Erfurt.

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FOTO: FALKO BEHR Das Bild „Mauerzirku­s“(Ausschnitt) ziert den Bucheinban­d. Gemalt hat es der aus Gera stammende Künstler Jost Heyder, Ehemann der Autorin. Die Porträtfot­os der Protagonis­ten des Bandes machte der Erfurter Fotograf Falko Behr.
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FOTO: ULRIKE MERKEL Die Erfurter Autorin Uta Heyder mit ihrem Buch „Born in the GDR“. In den er-jahren war sie zwischenze­itlich Redakteuri­n bei der Thüringer Allgemeine­n.

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