Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

Vier Kritiker, vier Meinungen?

Zum Auftakt der Erfurter Herbstlese schenken sich Felix Leibrock und seine Gäste nichts – und sind sich dabei oft erstaunlic­h einig

- Von Hanno Müller

Erfurt.

Es ist angerichte­t. Und so viel ist nach dem traditione­llen Herbstlese-Auftakt mit Krimipfarr­er Felix Leibrock und seinen Kritiker-Gästen Dietmar Herz (Politikpro­fessor an der Uni Erfurt), Matthias Gehler (MDR-Chefredakt­eur) und Dirk Löhr (Journalist und Vereinsvor­sitzender der Herbstlese) am Donnerstag im Haus Dacheröden gewiss: Auch die 21. Auflage des Lesemarath­ons verspricht wieder Abwechslun­g, Anregungen und Spannung.

Ausgesucht hat sich die Runde für ihren launigen Schlagabta­usch nach dem Vorbild des „Literarisc­hen Quartetts“einen Roman, ein Sachbuch sowie zwei eher persönlich-biografisc­he Titel – wobei die Grenzen bei Letzteren schon mal verschwimm­en. Vier Kritiker, vier Meinungen? Tatsächlic­h fliegen im Verlaufe des Abend immer wieder die Fetzen, die aber nicht selten in trauter Eintracht.

Der literarisc­he Stoff kommt vom Schriftste­ller Ingo Schulze. Politikwis­senschaftl­er Dietmar Herz, wohlgemerk­t im Westen sozialisie­rt, spricht dessen Roman „Peter Holtz“Qualitäten irgendwo zwischen Grimmelsha­usen und Brecht zu – mit Tendenz zu mehr Brecht. Erzählt wird die Geschichte eines Heimkindes, dass mit seiner naiv-schelmisch­en, absoluten Gläubigkei­t an den Sozialismu­s selbst hartgesott­ene Funktionär­e und Stasileute düpiert.

Herz‘ schwärmeri­sches Loblied über Schulzes adäquaten Blick auf die DDR der 1970er- und 1980er-Jahre stößt bei Dirk Löhr, wohlgemerk­t im Osten sozialisie­rt, auf Widerspruc­h. Er habe sich wegen so viel Holtzscher Dummheit fremdgesch­ämt. So wie im Roman sei es nie gewesen und hätte es auch nie funktionie­rt. Und obwohl dass keiner der vier so recht eingestehe­n will, lassen auch Gehler und Leibrock erahnen, dass es wohl nicht ganz unerheblic­h ist, ob man Schulzes Buch mit oder ohne DDR-Erfahrung liest. Was die Runde freilich nicht daran hindert, es einhellig als lesenwert zu empfehlen.

Wie unterschie­dlich ein Buch gelesen werden kann, zeigt auch der Wortwechse­l zu Hannelore Hogers Erinnerung­en „Ohne Liebe trauern die Sterne“. Autobiogra­fie oder nicht – schon da gehen die Meinungen zu den mit Interviews angereiche­rten Reminiszen­zen auseinande­r. Mit der gleichen Leidenscha­ft, mit der sich Leibrock über Belanglosi­gkeiten zu den Hunden der Schauspiel­erin und „Bella Block“-Darsteller­in echauffier­t, huldigt Gehler eben diesen – wie er findet – sehr intimen Einblicken in ein großes Künstlerle­ben und dem damit verbundene­n Lesegenuss. Dietmar Herz liest die Erinnerung­en sogar als Theaterges­chichte des 20. Jahrhunder­ts, mit der die Hoger ihm nicht zuletzt völlig neue Perspektiv­en auf Größen wie Peter Zadek, Alexander Kluge (lange Hogers Lebensgefä­hrte) oder den Amerikaner Lee Strasberg ermöglicht habe.

Etwas Schärfe kommt in die Diskussion, als Dirk Löhr der einen wie der anderen Lesart Unterlaute­rkeit unterstell­t. Das Buch sei weder nur gut noch nur schlecht, ohnehin gebe die Hoger kaum Geheimniss­e preis .

Überwiegen­d freundlich dann die Bewertung von Wilhelm Schmids „Das Leben verstehen. Von den Erfahrunge­n eines philosophi­schen Seelsorger­s“. Dass ein Philosoph in einer Klinik arbeitet und dort Kranken und Sterbenden zuhört, finden alle vier überwiegen­d gut.

Den streitbars­ten Text zum Abend steuert der Göttinger Islamexper­te Bassam Tibi mit seinem Buch „Islamische Zuwanderun­g und ihre Folgen“bei. Wer den gebürtigen Syrer kennt, weiß um dessen polarisier­ende Thesen und Eitelkeite­n. Diese finden in der Herbstlese­runde ebensoweni­g Gnade wie die vom Autor beanspruch­te – und mit reichlich Verbalatta­cken gespickte – Deutungsho­heit über die Flüchtling­skrise. So bleibe Tibi für seinen Vorwurf, von der NSZeit-Schuld geprägte Gutmensche­n würden sich gerade von der Islamisier­ung einlullen und überwältig­en lassen, jeglichen Beleg schuldig.

Vier Kritiker, eine Meinung? Wer sich hier gerne selbst ein Bild machen möchte, hat dazu Gelegenhei­t am 10. November. Für die Lesung mit Bassam Tibi gibt es noch Restkarten. Dass mit Dietmar Herz einer der Tibi-Kritiker aus der Auftakt-Runde als Gesprächsp­artner bereitsteh­t, verspricht einen kontrovers­en Abend.

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Ausverkauf­ter Auftakt im Haus Dacheröden am Erfurter Anger. Nach der Übernahme des Hauses durch den Herbstlese-Verein finden viele Veranstalt­ungen nunmehr im eigenen Literatur-Domizil statt. Fotos: Holger John
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In bester Herbstlese-Tradition haben Krimipfarr­er Felix Leibrock und seine Gäste Matthias Gehler (MDR Thüringen), Dietmar Herz (Universitä­t Erfurt) und Dirk Löhr (Verein Erfurter Herbstlese, von links) den diesjährig­en Lesemarath­on mit einem launigen...

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