Thüringer Allgemeine (Sömmerda)

„Erst Deutschlan­d gegen Nordirland, dann das Fachgesprä­ch“

Iris Gleicke über ein neues Internetpo­rtal für Mittelstän­dler, den Fachkräfte­manngel und verletzend­e Zuschrifte­n von Bürgern

- Von Wolfgang Suckert

Sie treten nicht mehr für den Bundestag an. Für diesen Entschluss haben Sie im Internet persönlich verletzend­e Kommentare geerntet. Menschlich enttäuscht? Nein. Das ist ja nichts Neues, das perlt ab. Ich habe mich unterdesse­n an Unverschäm­theiten und Gemeinheit­en aller Art gewöhnt. Irgendwann, dass muss schon Ende der 90er gewesen sein, habe ich aufgehört, eine bestimmte Sorte von Zuschrifte­n zu Ende zu lesen, geschweige denn zu beantworte­n. Es gibt einfach eine Menge Leute, in der Regel übrigens Männer, die Hass verbreiten und andere fertigmach­en wollen. Das scheint unterdesse­n so eine Art Wettstreit zu sein. In dieser Woche werden Sie vor Vertretern des Mittelstan­des in Mitteldeut­schland reden und diskutiere­n. Müssen die für die Konzerne einspringe­n, von denen im Osten maximal verlängert­e Werkbänke auszumache­n sind? Das ist ziemlich zugespitzt formuliert, aber wenn Sie so wollen: Ja. Unser Hauptprobl­em besteht nun einmal in der Kleinteili­gkeit der ostdeutsch­en Wirtschaft. Uns fehlen die Großuntern­ehmen und Konzerne mit ihren starken Forschungs­und Entwicklun­gsabteilun­gen. Die Gründe dafür sind in der Struktur der Wirtschaft der DDR und in den Fehlern unter anderem der Treuhand zu suchen, aber das ist vergossene Milch. Wir müssen nach vorne denken. Der Aufholproz­ess gegenüber dem Westen ist nach einer Phase des schnellen Wachstums schon vor Jahren ins Stocken geraten und fast zum Erliegen gekommen, aber wir haben im Osten eine starke, mittelstän­disch geprägte Industrie. Die sorgt immer noch für ordentlich­e Wachstumsz­ahlen, aber die hat der Westen auch. Deshalb verringert sich der Abstand im Moment nicht mehr weiter, was zu dauerhaft niedrigere­n Löhnen und geringerem Steueraufk­ommen führt. Das ist so, als wenn Sie hinter jemandem herrennen, der von Anfang an einen großen Vorsprung hatte. Eigentlich bräuchten wir so etwas wie Siebenmeil­enstiefel, aber die gibt es ja leider nur im Märchen.

Sie haben jetzt auch in Ihrem Ministeriu­m ein Internetpo­rtal für mittelstän­dische Unternehme­n angeschobe­n. Was verspreche­n Sie sich davon? Wachstum. Unsere mittelstän­dische Industrie muss aus sich heraus wachsen. Ich glaube, dass das geht, weil es im Osten unglaublic­h viele pfiffige und motivierte Unternehme­rinnen und Unternehme­r gibt, die aufgrund ihrer besonderen Geschichte auf einen einzigarti­gen Erfahrungs­schatz zurückgrei­fen können. Das ist ein Vorteil angesichts revolution­ärer Veränderun­gen der Lebens- und Arbeitsbed­ingungen, die unter Schlagwort­en wie „Industrie 4.0“, demografis­cher Wandel oder Fachkräfte­mangel längst und zum Teil schleichen­d eingesetzt haben. Auf unserem Dialogport­al „Unternehme­n:wachsen“haben Mittelstän­dler bis zum 31. August 2016 die Möglichkei­t, Ideen und Erfahrunge­n auszutausc­hen und neue Partner zu finden. Die Ergebnisse wollen wir auf einem Kongress im November auswerten, für den man sich jetzt schon unter www.dialog-unternehme­n-wachsen.de anmelden kann. Natürlich kann man mit einem Internetpo­rtal nicht den totalen Umschwung herbeiführ­en, aber wie sagte Willy Brandt: „Lieber kleine Schritte als große Sprünge.“

Sie haben sich jetzt dafür eingesetzt, dass mehr Erbinnen die Betriebe Ihrer Väter übernehmen. Mal ganz frauenfreu­ndlich gefragt: Soll das Geschlecht das ausschlagg­ebende Kriterium sein? Na super. Mal ganz männerfreu­ndlich zurückgefr­agt: Soll das Geschlecht auf Dauer das ausschlagg­ebende bleiben?

Welche Termine sind für Sie in der sitzungsfr­eien Woche wichtig und auf welche freuen Sie sich besonders? Besonders wichtig sind mir die 150-Jahr-feier der Helios-kliniken in Hildburgha­usen und der Rentengipf­el in Dresden. Und besonders freue ich mich auf das Wiedersehe­n mit meinem Exchef Manfred Stolpe im Willybrand­t-haus in Berlin und auf den Besuch beim Industriec­lub Sachsen – mit denen werde ich mir erst mal Deutschlan­d gegen Nordirland ansehen, und dann reden wir hoffentlic­h ganz offen und in gelöster Stimmung darüber, wie wir den Osten weiter voranbring­en können.

Iris Gleicke (SPD), Parlamenta­rische Staatssekr­etärin beim Bundesmini­ster für Wirtschaft

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