Thüringer Allgemeine (Sömmerda)
„Erst Deutschland gegen Nordirland, dann das Fachgespräch“
Iris Gleicke über ein neues Internetportal für Mittelständler, den Fachkräftemanngel und verletzende Zuschriften von Bürgern
Sie treten nicht mehr für den Bundestag an. Für diesen Entschluss haben Sie im Internet persönlich verletzende Kommentare geerntet. Menschlich enttäuscht? Nein. Das ist ja nichts Neues, das perlt ab. Ich habe mich unterdessen an Unverschämtheiten und Gemeinheiten aller Art gewöhnt. Irgendwann, dass muss schon Ende der 90er gewesen sein, habe ich aufgehört, eine bestimmte Sorte von Zuschriften zu Ende zu lesen, geschweige denn zu beantworten. Es gibt einfach eine Menge Leute, in der Regel übrigens Männer, die Hass verbreiten und andere fertigmachen wollen. Das scheint unterdessen so eine Art Wettstreit zu sein. In dieser Woche werden Sie vor Vertretern des Mittelstandes in Mitteldeutschland reden und diskutieren. Müssen die für die Konzerne einspringen, von denen im Osten maximal verlängerte Werkbänke auszumachen sind? Das ist ziemlich zugespitzt formuliert, aber wenn Sie so wollen: Ja. Unser Hauptproblem besteht nun einmal in der Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft. Uns fehlen die Großunternehmen und Konzerne mit ihren starken Forschungsund Entwicklungsabteilungen. Die Gründe dafür sind in der Struktur der Wirtschaft der DDR und in den Fehlern unter anderem der Treuhand zu suchen, aber das ist vergossene Milch. Wir müssen nach vorne denken. Der Aufholprozess gegenüber dem Westen ist nach einer Phase des schnellen Wachstums schon vor Jahren ins Stocken geraten und fast zum Erliegen gekommen, aber wir haben im Osten eine starke, mittelständisch geprägte Industrie. Die sorgt immer noch für ordentliche Wachstumszahlen, aber die hat der Westen auch. Deshalb verringert sich der Abstand im Moment nicht mehr weiter, was zu dauerhaft niedrigeren Löhnen und geringerem Steueraufkommen führt. Das ist so, als wenn Sie hinter jemandem herrennen, der von Anfang an einen großen Vorsprung hatte. Eigentlich bräuchten wir so etwas wie Siebenmeilenstiefel, aber die gibt es ja leider nur im Märchen.
Sie haben jetzt auch in Ihrem Ministerium ein Internetportal für mittelständische Unternehmen angeschoben. Was versprechen Sie sich davon? Wachstum. Unsere mittelständische Industrie muss aus sich heraus wachsen. Ich glaube, dass das geht, weil es im Osten unglaublich viele pfiffige und motivierte Unternehmerinnen und Unternehmer gibt, die aufgrund ihrer besonderen Geschichte auf einen einzigartigen Erfahrungsschatz zurückgreifen können. Das ist ein Vorteil angesichts revolutionärer Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen, die unter Schlagworten wie „Industrie 4.0“, demografischer Wandel oder Fachkräftemangel längst und zum Teil schleichend eingesetzt haben. Auf unserem Dialogportal „Unternehmen:wachsen“haben Mittelständler bis zum 31. August 2016 die Möglichkeit, Ideen und Erfahrungen auszutauschen und neue Partner zu finden. Die Ergebnisse wollen wir auf einem Kongress im November auswerten, für den man sich jetzt schon unter www.dialog-unternehmen-wachsen.de anmelden kann. Natürlich kann man mit einem Internetportal nicht den totalen Umschwung herbeiführen, aber wie sagte Willy Brandt: „Lieber kleine Schritte als große Sprünge.“
Sie haben sich jetzt dafür eingesetzt, dass mehr Erbinnen die Betriebe Ihrer Väter übernehmen. Mal ganz frauenfreundlich gefragt: Soll das Geschlecht das ausschlaggebende Kriterium sein? Na super. Mal ganz männerfreundlich zurückgefragt: Soll das Geschlecht auf Dauer das ausschlaggebende bleiben?
Welche Termine sind für Sie in der sitzungsfreien Woche wichtig und auf welche freuen Sie sich besonders? Besonders wichtig sind mir die 150-Jahr-feier der Helios-kliniken in Hildburghausen und der Rentengipfel in Dresden. Und besonders freue ich mich auf das Wiedersehen mit meinem Exchef Manfred Stolpe im Willybrandt-haus in Berlin und auf den Besuch beim Industrieclub Sachsen – mit denen werde ich mir erst mal Deutschland gegen Nordirland ansehen, und dann reden wir hoffentlich ganz offen und in gelöster Stimmung darüber, wie wir den Osten weiter voranbringen können.
Iris Gleicke (SPD), Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft