Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Wenn der Sohne ohne Vater
„Tatort Weimar“am Pfingstmontag: „Der letzte Schrey“schreit stumm nach Liebe und zerfasert in der Strickfabrik
Lessing schüttelt Schiller aus dem Handgelenk. „Nicht Fleisch und Blut, das Herz macht uns zu Vätern und Söhnen“, zitiert der Kriminalhauptkommissar an geeigneter Stelle. „Liebt ihr ihn nicht mehr, so ist diese Abart auch euer Sohn nicht mehr.“Das stammt von Franz, der Kanaille. „Die Räuber“. Er schleuderte es dort dem Vater entgegen, dem alten Moor.
Nicht im Moor, aber hüfttief in der Gülle watet Lessing auch. – Verzeihung! Aber das ist nun mal ungefähr die Fallhöhe des zehnten Falls aus dem Weimarer „Tatort“, den das Erste beileibe nicht zum ersten Mal an einem Feiertag platziert. Aber ein Fest wird leider nicht daraus, obschon alles dafür bereitet schien.
„Der letzte Schrey“fliegt und klettert im Wortsinn ziemlich hoch, unter anderem in einer Cessna, aus der ein Sohn auf seinen Vater herabschaut und der zu ihm hinauf, obwohl es sich in ihrem Leben sonst umgekehrt verhält. Doch schlägt dieser Film jäh auf dem Boden auf, so wie einer der hier hilfsweise und ziemlich hilflos agierenden „Räu- ber“, den es vom Strommast holt: übrigens die einzige Form von Hochspannung, die uns erreicht.
Formal geht es um Entführung und Erpressung, bewerkstelligt von zur Empathie wie zur Vernunft unbegabten Punkern: die Ex-heimkinder Freya und Zecke (Sarah Viktoria Frick und Christopher Vantis), denen „die intellektuelle Grundausstattung“für ihre Tat fehlt. Ihr psychologisches Tatmotiv, und das des Films wohl auch, sind unterdessen anwesende Väter (und Mütter), die sich entziehen, und die abwesenden, die sich nicht vertreiben lassen.
Daraus haben Autor Murmel Clausen und Regisseurin Mira Thiel zunächst einen „Qualitätsgarn“gesponnen, für den der Name Schrey ja angeblich steht, wie wir hören. Doch der zerfasert bald zusehends.
„Der letzte Schrey“, das steht zunächst für das drohende Ende einer verkorksten Familien- und Firmengeschichte. Das steht aber auch für die Verortung in der Welt der Strickmode: von Apolda inspiriert und dort in Teilen auch gedreht. Zu Schillers Zeiten schrieb man sowieso Schrey statt Schrei; er übrigens auch ein Stück namens „Die Poli- zey“. Schließlich also steht das noch für den stummen Schrei nach Liebe, der sich, wie „Die Ärzte“sangen, auch in Gewalt ausdrückt. Nicht das Herz, ließe sich sagen, ein Fleischhammer bringt hier das Blut erst in Wallung, dann ins Spritzen.
Schlimmer, und brutaler, sind die inneren Verletzungen des ungeliebten Stammhalters, dessen Mutter seine Geburt und dessen Stiefmutter (Nina Petri) den Anfang des Films nicht überlebte. Julius Nitschkoff lässt Maik Schrey gleichwohl dem Vater im Widerstreit der Ge- fühle hinterhecheln, als emotionales Zentrum der Geschichte. Der trippelt derweil in Bademantel und Schlappen sowie mit Fußfesseln durch die Botanik: Jörg Schüttauf als von Entführern ebenso gefangener Gerd wie von der skurrilen Egozentrik eines Liebesunfähigen.
Derweil versucht sich Kripochef Stich (Thorsten Merten) mal wieder als Ziehvater des Polizeitrottels Lupo (Arndt Schwering-sohnrey). Beide wollten eigentlich in den Ibizaurlaub fliegen, die Kommissare
Dorn und Lessing (Nora Tschirner und Christian Ulmen) einen freien Tag ohne ihren „Zwerg“verbringen. Sie debattieren die Au-pair-option.
„Der letzte Schrey“steht in der Wortwitz-tradition Weimarer „Tatorte“, bricht ernste Situationen heiter und heitere ernst, bricht aber nicht aus. Er schafft Atmosphäre, scheut aber das Risiko. An liebenden Vätern und Müttern mangelt es der Produktion nicht. Doch es ist, als seien Helikoptereltern am Werk.