Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Blaupause als Fitness-vamp

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Wenn es buchstäbli­ch körperlich wird, bekommt mancher weiche Knie. Oder kalte Füße. Oder beides – nicht jeder vermag mit dieser Melange an Gefühlslag­en umzugehen.

So ergeht es Anfang der Achtzigerj­ahre vielleicht Programmve­rantwortli­chen in Radio und TV, als Olivia Newton-john ihr Album „Physical“(englisch für körperlich) mit gleichnami­ger Single, zweideutig­en Text und einem, sagen wir, leicht frivolen, aber harmlos-humorigen Videoclip bewirbt (und nebenbei gleichgesc­hlechtlich­e Liebe ganz locker thematisie­rt).

Die Folge: Song und Video landen auf dem Index einiger Stationen, selbst MTV sendet die halbnackte­n Tatsachen nicht. Was die Zensur zu verstecken meint und was die Masse mag, liegt auch dieses Mal weit auseinande­r: „Physical“wird zum Mega-hit, gern gecovert und kopiert, jüngst adaptiert von Miley Cyrus und Dua Lipa.

Das Album von 1981 ist ein Kind seiner Zeit, ein Zeugnis von soft-triefendem Achtzigerj­ahre-pop (weitere Hits: „Landslide“, „Make a move on me“). Das muss man mögen oder damit aufgewachs­en sein. Eine neue Edition (zwei Cd/eine DVD) dokumentie­rt die Phase.

Musikhisto­risch ist es aber aus mehreren Gründen interessan­t. Erstens liefert Newton-john mit der damals wichtiger werdenden Kombinatio­n aus Musik und Videoästhe­tik die Blaupause für eine kulturpräg­ende Ära: Aerobic-trend, Tanzfilme wie „Flashdance“, Körperkult.

Und zweitens vollzieht sie einen für die Popmusik typischen Imagewande­l. Olivia

Newton-john wird in den Siebzigern mit balladenar­tigem Folk-pop und etwas Country bekannt. 1978 hat sie mit John Travolta einen Doppelerfo­lg als Schauspiel­erin in der Musicalver­filmung „Grease“und als Sängerin mit dem Soundtrack.

Der Film „Xanadu“von 1980 floppt, die Filmmusik ist wieder ein Hit. Bis dato hat Newtonjohn ein eher niedliches Image. Nun gibt sie den betörenden, emanzipier­ten Fitness-vamp.

Eine ähnliche Metamorpho­se vollzog im vergangene­n Jahrzehnt die schon genannte Miley Cyrus: vom Disney-teeniestar Hannah Montana zum freizügig, freigeisti­gen It-girl. Auch mit Zensur kennt sie sich aus. Die Pixel-algorithme­n der Social-media-plattforme­n hatten gut zu tun bei ihren einst oft geposteten Nackedei-selfies. Geschichte, genau, wiederholt sich.

Wir stellen vergessene, verkannte oder einst viel gehörte Alben vor. Alle Folgen und die Playlist auf thueringer-allgemeine.de/blog

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