Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Antisemitismus ist noch immer ein deutsches Thema. Ein Essay zum Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938
Nein, Jan Böhmermann ist kein Antisemit. Auch Serdar Somuncu nicht. Aber der jüdische Comedian Oliver Polak hat das jetzt in seinem Buch „Gegen Judenhass“unterstellt. In dieser anarchischen Comedy, deklariert als ein „Anti-sarrazin-abend“, trat ein afrodeutscher Kabarettist auf, der so tat, als könne er nicht richtig Deutsch sprechen und von Somuncu „Bimbo“genannt wurde; Carolin Kebekus erklärte, Somuncu, dessen Bühnenjubiläum Anlass der Show war, bekäme als Türke keine Frau und treibe es statt dessen mit Ziegen: Sie alle führten erkennbar satirisch überhöht fremdenfeindliche Stereotype vor. Als Oliver Polak mit seiner Nummer fertig ist, ruft Somuncu „Verpiss dich“und schiebt ihn mit Klaas Heufer-umlauf von der Bühne, Böhmermann besprüht den freien Platz mit einem Desinfektionsspray. Das war ein mit allen Beteiligten vereinbarter Exzess an Provokation, ein Abend aber mit einer eineindeutigen Haltung. Man mag das geschmacklos finden, antisemitisch aber, oder sonst rassistisch – auch der Türke, der Schwarze und die Frau wurden beleidigt, – antisemitisch sollte, dürfte man es nicht nennen. Dafür ist dieses Thema zu wichtig.
Die große mediale Erregung um den Vorgang steht jedoch dafür, welche Präsenz das Thema in Deutschland beansprucht.
„Für Antisemitismus ist kein Platz in Deutschland.“Der Regierungssprecher hat diesen Satz gesagt, viele deutsche Politiker haben ihn gesagt und zweifelsfrei auch gemeint. Dieser Satz sollte 80 Jahre nach der „Reichskristallnacht“und 29 Jahre nach dem deutschen Glück des Jahres 1989 eine Selbstverständlichkeit sein.
Kein Platz für Antisemitismus? In Chemnitz wurde ein jüdisches Restaurant angegriffen. In Berlin wurde ein Mann mit Kippa von einem jungen Syrer mit einem Gürtel geschlagen. In Berlin wurde ein jüdischer Restaurantbetreiber aufgefordert zu verschwinden: „Was macht ihr Juden noch hier, haben die Gaskammern nicht gereicht?“In München erhoben sich die Zuschauer eines Prozesses und applaudierten, als die wegen Rechtsextremismus angeklagte Frau das Gericht als freier Mensch verlassen durfte.
In Deutschland wurde ein Rapper ausgezeichnet, der die Zeile „Mein Körper definierter als von Auschwitz-insassen“geschrieben und gesungen hatte.
In Thüringen gab es zwischen 2010 und 2018 laut Bundesinnenministerium 29,8 registrierte antisemitische Straftaten auf 100.000 Einwohner, der Bundesdurchschnitt liegt bei 14,6. Im Thüringen-monitor der Universität Jena stimmten in diesem Jahr neun Prozent der Befragten der Aussage zu „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“.
ZAus Anlass des . Jahrestages der Gewaltakte gegen Juden widmet sich die neue Ausstellung im Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“in Berlin seit Mittwoch den Novemberexzessen gegen Synagogen und jüdische Geschäfte von . Das Foto zeigt eine Außeninstallation an Resten der Berliner Mauer. Foto: Rolf Zöllner, epd-bild, imago
u „uns“? Wer sind „wir“und wenn ja: Warum? So wie das Judentum die historische und theologische Voraussetzung des Christentums ist, so sind der Antisemitismus, der Antijudaismus, die ständigen Begleiter des Christentums. Zu manchen Zeiten in schriller Grellheit, zu anderen als leises Hintergrundrauschen.
Luther und Wagner, Voltaire und H.G. Wells. Der jüdische Publizist Moritz Goldstein schrieb 1912 in der sogenannten Kunstwart-debatte: „Wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die anderen fühlen uns ganz undeutsch.“Gilt das noch immer?
Anders als in anderen Ländern, Polen etwa und Ungarn, ist Antisemitismus in Deutschland ein moralisches Tabu, die gesellschaftlichen Eliten sind frei davon. Niemand der – außerhalb der AFD, wo man es immerhin riskieren kann, – an seinem Fortkommen interessiert ist, würde einen antisemitischen Ausfall riskieren. Das ist nicht nur Druck, es ist, mindestens überwiegend, eine Haltung.
Aber auf deutschen Schulhöfen gilt „Du Jude“, gebraucht gegenüber Nicht-juden, inzwischen als Schimpfwort. Dem
einzelner Individuen, Gruppen oder Staaten, das gilt vornehmlich für Israel, jedem Angehörigen einer Religion oder Ethnizität angerechnet werden. Die im Zusammenhang mit der Migration radikal gesunkene Hemmschwelle im öffentlichen Raum, nicht nur in den sozialen Medien, bereitet auch den Boden für eine hemmungsfreie Rhetorik gegenüber allen ethnischen und religiösen Gruppen.
Die institutionalisierte Wegbereiterin dieser Hemmungslosigkeit ist die AFD. Deren widerwärtiger Lautsprecher Höcke fordert eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“und sieht im Berliner Holocaust Mahnmal ein die deutsche Glorie verdunkelndes „Denkmal der Schande“, die Landesverbände tun sich schwer, eine klare Haltung zu Antisemiten wie Wolfgang Gedeon zu finden – und zugleich instrumentalisiert diese Partei den Antisemitismus vieler Muslime, um sich als Beschützer der Juden zu gerieren.
So ist, wer diese Partei wählt, selbstverständlich kein Neo-nazi – die AFD ist nicht die NPD, aber er unterstützt, gewollt oder nicht, ein Klima, in dem Fremdenfeindlichkeit jeder Couleur gesellschaftsfähig wird. Und ein Staat, der sein Gewaltmonopol nicht konsequent durchsetzt und Verstöße jeder Art entsprechend sanktioniert, dessen Gerichte
nicht alles, was das Gesetz hergibt, armieren gegen Rechtsextremismus, der tut das auch.
Gerichte, die wie in Thüringen, Auflagen für rechtsradikale Konzerte kippen. Und eine Landesregierung, deren linker Ministerpräsident die Einrichtung eines Antisemitismusbeauftragten, anders als etwa Hessen, Berlin, Rheinland-pfalz, Bayern oder Badenwürttemberg und nächstens Sachsen-anhalt, ablehnt, gibt Anlass zu der Frage, ob Teile der linken Basis, anders als Bodo Ramelow, zwischen berechtigter Israelkritik und Antisemitismus zu unterscheiden gewillt sind. Aber das vermögen auch manche Gerichte nicht. Zwei Instanzen in Wuppertal konnten in dem Brandanschlag auf eine Synagoge keinen Antisemitismus erkennen, lediglich Kritik an Israel. Was bedeutet, dass die Handlungen des Staates Israel im Namen des deutschen Volkes auf hier lebende Juden und ihre religiöse Stätte angerechnet wurden.
Der zu Beginn erwähnte Oliver Polak fragt in seinem Buch „Was unterscheidet das Wort Jude von Christ, Moslem oder Buddhist?“Acht Jahrzehnte nach der Pogromnacht des 9. November 1938 ist das noch immer eine deutsche Frage. Auf die eine oder andere Weise.