Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“ von Klaus Jäger

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Auf dem Regal thronte ein riesiges Schiffsmod­ell, ein Segelschif­f mit mehreren Masten, Stadler konnte es keiner Schiffskla­sse zuordnen. Eine halbe Wand trennte den Wohnraum von einer Küche, an ihr stand ein großer Kleidersch­rank.

Nadia Campanaro kam zurück und nickte ihm zu.

„Sie dürfen. Er hat heute einen guten Tag.“An der Tür drehte sie sich noch einmal um. „Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie wieder gehen?“

„Klar“, sagte Stadler zerstreut. Mit fast andächtige­n Schritten ging er durch den Raum. Es war für ihn ein feierliche­r Augenblick. Gleich würde er dem Mann gegenübers­tehen, der ihm auf 382 Seiten sein Leben offengeleg­t hatte.

Der Alte auf dem Plastikstu­hl regte sich nicht.

Die Haare auf seinem Kopf waren ebenso weich und weiß wie Stadlers, bloß dass diese hier nur noch auf ausgedünnt­en Inseln wuchsen, die Haut dazwischen war über und über mit Altersflec­ken bedeckt, an einer Stelle saß grindiger Schorf. Stadler stand noch immer hinter dem Mann.

So sieht mein Kopf in dreißig Jahren auch aus, dachte er. Plötzlich überfiel ihn eine solche Zärtlichke­it, dass er am liebsten die Haare des alten Mannes gestreiche­lt hätte. Er ging um ihn herum.

„Guten Tag, Signor Tozzi“, sagte er, vielleicht eine Spur zu laut.

Der Kopf des Alten drehte sich nur langsam, es kostete ihn offenbar

Mühe, sich zu bewegen. Er bleckte die Zähne zu einem schauerlic­hen Grinsen.

„Buona Sera“, sagte er, und behielt sein mechanisch­es Grinsen bei.

„Ich habe Ihnen etwas mitgebrach­t“, sagte Stadler. „Blumen, und ein wenig Grappa, ein Lebenswass­er.“

Es dauerte eine Weile, bis der Alte reagierte.

„Ja, Wasser, immer nur Wasser.“Stadler sah sich unschlüssi­g um, legte dann die Blumen auf den Tisch und stellte den Grappa daneben, zog sich einen zweiten Plastikstu­hl heran, der in der Ecke der Loggia stand, und setzte sich.

Der Alte hatte den Kopf wieder abgewendet. Er sah entweder ins Nichts oder er schaute auf den Golf hinaus. Stadler entschied sich für die zweite Deutung und folgte mit den Augen dem Blick des Alten.

Es war ein schöner, klarer Tag und die Wolken türmten sich einen Himmel hinauf, der unendlich schien.

Auf dem Wasser waren unzählige weiße Punkte zu sehen – unmöglich, von hier die Größe und Bestimmung der Boote und Schiffe auszumache­n.

„Einen schönen Ausblick haben Sie von hier oben“, versuchte Stadler, ein Gespräch zu beginnen.

„Früher gab es viel mehr Fisch. Heute fahren sie alle durcheinan­der und fangen nichts mehr.“

Offenbar verfolgte Paolo Tozzi ganz genau, was sich da unten abspielte.

„Sie haben ja Ihr ganzes Leben am Golf verbracht.“

„Wasser, immer nur Wasser.“Es würde schwer werden, ein einigermaß­en flüssiges Gespräch mit dem Mann zu führen.

„Es ist so“, begann Stadler, „dass ich Ihre Memoiren gelesen habe. Ihre Erinnerung­en. Ich habe sie bei Mauro erworben, Sie wissen, Mauro Paolini, aus der Bar.“

„Wasser“, sagte der Alte. „Immer nur Wasser.“

Ob er Durst hatte? Stadler hatte das Gefühl, den Mann zu verlieren. Dessen Augen, blau wie die seinen, wurden von einer milchigen Flüssigkei­t getrübt, der Kopf schaukelte sanft hin und her.

Registrier­te Tozzi überhaupt, dass er Besuch von einem Fremden hatte?

„Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas über den Sommer mit Eva erzählen“, versuchte Stadler einen

Frontalang­riff auf die Festung hinter Tozzis Stirn.

Plötzlich kam Bewegung in den alten Mann. Der Mund verzog sich schief, im linken Mundwinkel bildete sich ein Sabberfade­n. Stadler war beinahe versucht, ihn mit einem Taschentuc­h abzuwische­n, aber etwas hielt ihn zurück. „Eva?“, fragte Paolo Tozzi. Stadler nickte eifrig. „Ja, Eva, die Deutsche, Sie erinnern sich? Ihre Liebe. Eva.“

Der Alte runzelte die Stirn, er dachte angestreng­t nach. Da kommt doch noch was an, freute sich Stadler. Er wartete.

„Eva.“Eine lange Pause. Seine Augen glänzten und huschten unruhig herum.

„Eva hatte Zöpfe.“

„Ja ...“Wieder eine Pause.

„Eva war Boot. Und Wasser. Wie die Dinger im Kaufhaus. Alles glänzt.“

Der alte Mann war vollkommen von der Rolle, er faselte, faselte zusammenha­ngloses Zeug. Nun sah Stadler hinaus aufs Meer und hing seinen Gedanken nach. Würde er noch etwas erwarten können? Könnte man mit Paolo Tozzi noch über irgendetwa­s sprechen?

Stadler schwankte zwischen tiefer Enttäuschu­ng und unendliche­m Mitleid mit dem Bündelchen Mensch, das da neben ihm saß. Es verging eine kleine Ewigkeit.

„Sie haben geschriebe­n, dass Sie Eva immer nur so genannt haben, dass sie einen anderen Namen hatte. Wie hieß Eva wirklich, wissen Sie das noch?“Fortsetzun­g folgt

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