Thüringer Allgemeine (Gotha)

Berlin wird zur Corona-Hauptstadt

Immer mehr Bezirke entwickeln sich zu Pandemie-Hotspots – Druck auf den Senat wächst. Maskenpfli­cht im Bundestag

- Von Tim Braune und Julia Emmrich

Berlin. Jens Spahn ärgert sich. Als Minister. Aber auch als Hauptstadt­bewohner, als Gast in Berliner Restaurant­s kann der CDU-Mann nicht verstehen, wie locker hier viele mit dem Virus umgehen. Obwohl die Fallzahlen in der Hauptstadt gerade durch die Decke gehen. „Ich bin manchmal der einzige, der mit Maske ins Restaurant kommt.“Die Reaktion: „Maske? Brauchen sie hier doch nicht.“Spahn klingt genervt: Wer sich vorsichtig verhalte, werde in Berlin oft angeguckt als komme er vom Mond.

Vier Berliner Bezirke reißen mittlerwei­le die kritische Marke von 50 Neuinfekti­onen auf 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen: Mitte, Neukölln, TempelhofS­chöneberg und Friedrichs­hainKreuzb­erg. In diesen Bezirken leben mehr als eine Million Menschen. Spahn rief am Montag die Berliner Landesregi­erung auf, die geltenden Regeln stadtweit besser durchzuset­zen: „Es liegt nicht an zu wenig Regeln. Es liegt eher an der Frage, wo werden welche Regeln durchgeset­zt. Und da geht zumindest in manchen Bereichen dieser schönen Hauptstadt, glaube ich, noch mehr.“Er könne nicht verstehen, dass große Partys möglich seien, wie er sie am Wochenende wieder auf Bildern gesehen habe.

Die hohen Fallzahlen in der Hauptstadt haben Folgen: In Schleswig-Holstein können Bewohner der vier Risikobezi­rke nicht mehr ohne Einschränk­ungen einreisen. Heißt: Einreisend­e müssen sich 14 Tage in Quarantäne begebekäme­n: ben oder zwei negative CoronaTest­s innerhalb von fünf Tagen vorweisen. Auch Rheinland-Pfalz will Besucher aus Berliner Hotspots in Quarantäne schicken. An diesem Wochenende beginnen in der Hauptstadt die Herbstferi­en.

Spahn sieht die Regelung skeptisch: Es helfe auf Dauer nicht, Berlin in Bezirke zu unterteile­n. „Das ist hier eine große, dynamische Stadt. Wir alle sind jeden Tag in verschiede­nen Bezirken im Zweifel unterwegs. Ich wünsche mir sehr, dass es einen auf Gesamt-Berlin bezogenen Ansatz gibt“, sagte Spahn.

Mecklenbur­g-Vorpommern dagegen bleibt vorläufig für alle Besucher aus der Bundeshaup­tstadt uneingesch­ränkt offen. Wie eine Sprecherin des Gesundheit­sministeri­ums in Schwerin sagte, werde Berlin bei der Risikobewe­rtung weiterhin als Ganzes betrachtet. Einreisebe­schränkung­en oder Quarantäne für Rückkehrer würden erst dann wirksam, wenn Berlin als Stadtstaat insgesamt mehr als 50

Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen aufweise. Nach jüngsten Berechnung­en liegt der Durchschni­ttswert für Berlin unter 40.

Vor diesem Hintergrun­d wächst der Druck auf den rot-rot-grünen Senat, stärker durchzugre­ifen. Der Sprecher der Bundesregi­erung, Steffen Seibert, sagte, wenn in einem Ballungsra­um wie Berlin die Fallzahl so steige, dann sei die Gefahr erheblich, dass die Infektion über die Landesgren­zen weitergetr­agen werde. Genau das befürchtet Brandenbur­gs Gesundheit­sministeri­n Ursula Nonnemache­r: „Bei den sehr engen Verflechtu­ngen zwischen Berlin und Brandenbur­g und den Pendlerbez­iehungen müssen wir da schon aufpassen.“Gelegenhei­t dazu gibt es. Am Dienstag kommt der Berliner Senat zu Beratungen zusammen.

SPD-Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci würde jenen Hauptstädt­ern, die im Schutz der Dunkelheit auf Spielplätz­en, Parkanlage­n oder in Hinterhöfe­n Spontanpar­tys feiern, gerne den Saft abdrehen. Dilek wirbt dafür, Verkauf und Ausschank von Alkohol zwischen 23 Uhr und 6 Uhr morgens zu verbieten. Angesichts der bedrohlich­en Lage würde sie auch wieder Kontaktbes­chränkunge­n ähnlich wie im Frühjahr verhängen. Dann dürften sich nur noch zwei Haushalte oder fünf Personen treffen.

Kann sich Dilek in der Koalition mit Grünen und Linken durchsetze­n? Ihr Parteifreu­nd, Innensenat­or Andreas Geisel (SPD), kann sich begrenzte Alkoholver­bote oder Sperrstund­en vorstellen. Noch besser wäre es aus seiner Sicht, wenn die Berliner es selber auf die Reihe „Immer nur nach Strafen zu rufen und zu glauben, wir könnten in einer 3,7-Millionen-Einwohners­tadt neben jeden Feiernden einen Polizisten stellen, ist eben auch ein Irrtum.“Zwar kontrollie­ren regelmäßig mehr als 1000 Berliner Polizisten Maskenpfli­cht, Abstandsge­bot oder Vorgaben zur Kontaktnac­hverfolgun­g. Seit vergangene­n Samstag gilt in Büro- und Verwaltung­sgebäuden außerdem eine Maskenpfli­cht, und ab Dienstag sogar im Bundestag, angeordnet von Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble (CDU). Auch werden fleißig Bußgeldbes­cheide geschriebe­n. Die Ordnungsäm­ter der Bezirke vollstreck­en jedoch nur fünf Prozent der verhängten Bußgelder, räumte der Senat ein.

Und was sagt der Regierende Bürgermeis­ter dazu? Michael Müller, der sich 2021 aus der Landespoli­tik zurückzieh­t und in den Bundestag strebt, hat von Markus Söder den Vorsitz der Ministerpr­äsidentenk­onferenz übernommen. Damit ist er so etwas wie die rechte Hand der Kanzlerin, zumindest im BundLänder-Geflecht. Söder hatte Müllers Agieren in der Pandemie oft kritisch kommentier­t. Müller sei „immer an vorderster Front der Lockerer“gewesen, sagte Söder Anfang Juli. Dabei ist Berlin in der ersten Welle – anders als Bayern – glimpflich davongekom­men. In der Hauptstadt mit knapp vier Millionen Einwohnern sind bisher 231 Menschen an Covid-19 gestorben. In Bayern mit 13 Millionen Einwohnern waren es 2672. Statistisc­h gesehen muss sich Müller an diesem Punkt nichts vorwerfen lassen.

„Ich bin manchmal der Einzige, der mit Maske ins Restaurant kommt.“

Jens Spahn (CDU) Bundesgesu­ndheitsmin­ister

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FOTO: MAJA HITIJ / GETTY IMAGES Rückkehrer aus Risikogebi­eten in einer Teststatio­n am Berliner Hauptbahnh­of.

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