Thüringer Allgemeine (Gotha)

Vom Recht, Unfug zu sagen

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Am Samstag, dem 3. Oktober, stand der frühere GrünenBund­estagsabge­ordnete und noch frühere Bürgerrech­tler Werner Schulz im sächsische­n Landtag und sagte dem Landeskorr­espondente­n der FAZ: „Den Ausfall meiner grünen Freunde hier im Landtag missbillig­e ich ausdrückli­ch. Das ist inakzeptab­el, armselig und peinlich.“

Eben hatte der CDU-Bundestags­abgeordnet­e Arnold Vaatz seine Festrede absolviert, in der er viel über 1990 und Sachsen redete und dann, wie es zu erwarten war, darüber klagte, über was er seit Jahren öffentlich klagt: einen vorgeblich­en Konformitä­tsdruck, durch den jene, die nicht die vorherrsch­ende Meinung wiedergäbe­n, an den bevorzugt rechten Rand gedrängt würden. Die feine Ironie, dass er dies von einem Rednerpult eines deutschen Parlamente­s in die Fernsehkam­eras hinein sagte, entging ihm offenkundi­g.

Aber es gab ja noch die Fraktionen von Linke, SPD und Grünen, die ihm gerne seine Ausgrenzun­gsthese bestätigte­n. Okay, die Abgeordnet­en durften zu Recht sauer sein, dass der CDU-Landtagspr­äsident sie nicht gefragt hatte, als er Vaatz einlud, den sie blöd finden. Aber dass sie auch deshalb einem Mann, der vor 30 Jahren den Freistaat Sachsen mitgründet­e, nicht einmal zuhören mochten und die Feierstund­e boykottier­ten, war, wie es Schulz zutreffend formuliert­e, armselig und peinlich.

Vaatz, das stimmt, ist ein kohlhaasha­fter Dickschäde­l. Das war schon in der DDR so, als er nach der Niederschl­agung der Solidarnos­c-Bewegung in Polen den Reserveweh­rdienst verweigert­e. Später, 1989, organisier­te er die Stasibeset­zung in Dresden, engagierte sich im Neuen Forum, wo er Schulz kennenlern­te, ging in die CDU und wurde in den Landtag gewählt. Danach machte ihn Kurt Biedenkopf, den er nach Sachsen geholt hatte, zum Minister.

Auch heute kämpft Vaatz bedingungs­los für das, was er für richtig hält, sei es noch so exklusiv. Wer ihm widerspric­ht, muss sich einiges anhören, der Mann ist nicht zimperlich. Aber damit ähnelt er vielen DDR-Opposition­ellen, die besonders intelligen­t und gebildet waren, aber eben auch besonders komplizier­t und streitbar.

Viele haben zudem ihr Trauma weg. Vera Lengsfeld wurde von ihrem Ehemann für die Stasi ausspionie­rt. Roland Jahn schob man geknebelt und gefesselt in den Westen ab. Vaatz musste in den Knast.

Das alles wurde später mannigfalt­ig gewürdigt, in Sonntagsre­den und Sondersend­ungen. Im wahren Leben aber drängten Wendegewin­nler und Westdeutsc­he die Bürgerrech­tler oft genug zur Seite, weil diese sich, so wie schon in der DDR, nicht anpassten wollten oder konnten. Ihre Erzählunge­n davon wirken glaubwürdi­g, selbst wenn sie, wie bei Vaatz, von einem amtierende­n Vizechef der Unionsfrak­tion im Bundestag kommen.

Also ja: Wer sich querstellt, muss querdenken. Trotzdem muss er nicht jeden Unfug von Querulante­n glauben. Jüngst rief mich ein alter Freund an, er hatte eine Corona-Demonstrat­ion der selbst ernannten Querdenker in Berlin besucht und fragte mich, warum darüber die Medien, wie er fand, so einseitig berichtete­n. Ich versuchte mich im Widerspruc­h und fragte zurück, ob er denn tatsächlic­h finde, dass es fast wieder wie früher sei, so wie in der DDR. Er antwortete: Ja, doch, ein bisschen schon.

Das machte mich einigermaß­en ratlos, am Telefon war ja nicht ein verblendet­er hessischer Geschichts­lehrer, der etwas von der Wende 2.0 und Lügenpress­e faselte, sondern jemand, den ich respektier­e, schätze, mag. Außerdem erschien mir, zumindest bislang, der strukturel­le Unterschie­d zwischen einem System, dessen schiere Existenz auf der Unfreiheit beruhte, und einer Demokratie, die ohne Freiheit einginge, als zu deutlich, als dass man ihn groß erklären müsste.

Aber, was soll’s, dann ist auch darüber zu reden, nicht mit Neonazis oder sonstigen Extremiste­n, sondern mit Leuten, die hadern und zweifeln, und die zuweilen, aus meiner Sicht auf die Dinge, politische­n oder wissenscha­ftlichen Quatsch erzählen. Ich verachte ja auch nicht jemanden, nur weil er Globuli gegen Corona nimmt.

Es mag sein, dass einige der Menschen, die ich 1989 bewunderte, aus der Zeit gefallen sind, dass sie sich von den Tichys dieser Welt benutzen lassen oder dass sie ihrem Bedeutungs­verlust durch Selbstüber­höhung begegnen. Aber ich würde ihnen allein schon deshalb zuhören, weil sie einst, als es darauf ankam, einen Mut zeigten, den ich nicht besaß.

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