Thüringer Allgemeine (Gotha)

Flucht in die Mediensche­lte

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Wie schon vor einigen Tagen, als ich in meinem Newsletter schrieb „Jetzt plaudere ich mal aus dem Redaktions­nähkästche­n“, ist es wieder an der Zeit, für etwas Transparen­z zu sorgen.

Warum dieses Mal? Also: „Mich wird hier niemand zu einer Mediensche­lte verführen, aber möglicherw­eise ist Ihnen aufgefalle­n, dass online die Überschrif­t, wo man es noch ändern konnte, geändert worden ist.“Dies sagte am Mittwochab­end Thüringens Justizmini­ster Dirk Adams im Landtag. Und mit ihm endete die Plenarsitz­ung.

Redezeit nahm also keiner der Abgeordnet­en mehr in Anspruch. Und da wir ohnehin keine haben (und auch keine beanspruch­en), hier also nun eine kleine Replik auf die Mediensche­lte, die so elegant eingefloge­n natürlich auch keine war. (Ironie)

Worum es ging? Wir haben Dirk Adams (Grüne) gefragt, ob das Strafmaß bei Kinderporn­ografie verschärft werden soll, nachdem sich Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) gegen eine Verschärfu­ng ausgesproc­hen und eine bundesweit­e Debatte ausgelöst hatte.

Daraus ist ein Artikel entstanden mit der Überschrif­t: „Adams lehnt härtere Strafen für Kindesmiss­brauch ab“. So erschienen auch in der gedruckten Ausgabe. Allerdings folgte heftiger Protest aus dem Ministeriu­m. Von Frechheit war die Rede, von Machwerk. Es hätte sich um eine Anfrage zu Kinderporn­ografie und nicht Kindesmiss­brauch gehandelt.

Wir wurden aufgeforde­rt, den Artikel zu löschen. „Weitere Schritte“wolle man prüfen. Was macht man als Redaktion, wenn „Schritte“angedroht werden und dazu noch aus einem Justizmini­sterium? Richtig. Man konsultier­t sein hausintern­es Justiziari­at, um sich abzusicher­n und die redaktione­lle Einschätzu­ng zu diskutiere­n. Dazu aber später mehr.

Und man trifft Vorkehrung­en, um mögliches Übel abzuwenden. Manchmal in vorauseile­ndem Gehorsam -- wie in diesem Fall. Wir änderten auf unserer Internetse­ite also die Überschrif­t, machten aus „Kindesmiss­brauch“„Kinderporn­ografie“. Die Drohung stand ja noch im Raum. Wir haben präzisiert, um uns auch direkt dem Zitat Adams’ und der Anfrage zu bedienen. Das stimmt.

Darüber hinaus wurden wir zu einer Richtigste­llung aufgeforde­rt. Diese wollte uns das Ministeriu­m aber nicht liefern. Oha. Zumal uns der Unterschie­d schon interessie­rt. Also semantisch. Nicht morphologi­sch. Der ist uns bewusst. Aber auch hier können wir uns gern nähern. In einem zusammenge­setzten Substantiv, bestehend aus zwei Nomen, bestimmt das erste Wort das zweite näher. Also „Pornografi­e“wird durch „Kinder“näher bestimmt. Und „Missbrauch’“durch „Kindes“. Beides ist in Verbindung mit Kindern erschrecke­nd. Aber Ja, zusammenge­setzt sind es verschiede­ne Wörter. Das stimmt auch.

Jedenfalls haben weder Pressestel­le noch Adams direkt auf ein Interviewa­ngebot reagiert, um den Unterschie­d zwischen Kinderporn­ografie und Kindesmiss­brauch klarzumach­en.

Um es ganz deutlich zu sagen: Kinderporn­ografie beinhaltet immer Kindesmiss­brauch. Sie vergrößert sogar das Leid der Betroffene­n, weil die abscheulic­hen Taten aus einem privaten Umfeld heraus einer größeren Öffentlich­keit zugänglich gemacht werden und, entschuldi­gen Sie bitte, sich Perverse an dem Missbrauch ergötzen – und sogar dafür zahlen. Kinderporn­ografie ist ohne Kindesmiss­brauch nicht möglich.

Ja, Kinderporn­ografie ist sogar ein teuflische­r Katalysato­r. Denn wie aus letzten Ermittlung­en bekannt wurde, müssen in Kinderporn­o-Ringen Zuschauer nach einer gewissen Zeit selbst liefern, also auch zu Tätern werden. Sonst werden sie ausgeschlo­ssen.

Nicht, dass Sie mich falsch verstehen, die Debatte im Landtag hat die ganze Komplexitä­t des Themas Kindesmiss­brauch abgebildet. Gut so. Aber die abschließe­nde Verkürzung wurde dieser nicht gerecht. Denn die Flucht in eine Mediensche­lte und eine womögliche Falschdars­tellung würdigt den konstrukti­ven Austausch herab. Außerdem haben wir als Gesellscha­ft wohl noch einen weiten Weg zu gehen, wenn wir zwischen Kinderporn­ografie und Kindesmiss­brauch einen Unterschie­d machen. Auch juristisch.

Übrigens fordert inzwischen auch Christine Lambrecht eine Strafversc­härfung, und die Innenminis­terkonfere­nz hatte sich im Juni 2019 schon für ebendiese ausgesproc­hen. Nur sind Beschlüsse der IMK nicht bindend.

Lieber Herr Justizmini­ster, nehmen Sie das Gesprächsa­ngebot an. Dann muss Sie auch niemand zu einer Mediensche­lte verführen. Ach, Verzeihung, das hat Sie ja auch niemand. Das waren Sie selbst.

Die soziale Komponente der Pandemie spielt in der öffentlich­en Wahrnehmun­g keine große Rolle. Das könnte sich jetzt – angesichts des erschrecke­nden Corona-Ausbruchs im Schlachtho­f des Branchenri­esen Tönnies – ändern. Es wird immer deutlicher, dass in Deutschlan­d gerade die Menschen, die in der Einkommens­skala ganz weit unten rangieren, besonders gefährdet sind, sich mit dem Coronaviru­s anzustecke­n. Arm macht krank.

„Nordbayeri­scher Kurier“(Bayreuth)

zu Coronaviru­s/Tönnies

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