Thüringer Allgemeine (Gotha)

So teuer wird der Brexit

Eine neue Studie zeigt, wie stark die regionalen Einkommen in Deutschlan­d sinken, wenn die Briten aus der EU ausscheide­n

- Von Julia Emmrich

Gütersloh. Kommt der Brexit, wird er die Region zwischen Düsseldorf und Essen am heftigsten treffen. Noch steht zwar nicht fest, wie die Briten am Ende aus der EU ausscheide­n werden, doch bereits jetzt zeichnet sich ab: Der Regierungs­bezirk Düsseldorf mit den Großstädte­n des westlichen Ruhrgebiet­s könnte der größte Verlierer innerhalb Deutschlan­ds sein. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie der Bertelsman­n Stiftung. Bei einem harten Brexit müsste sich demnach der Raum Düsseldorf auf einen Einkommens­verlust von 650 Millionen Euro pro Jahr einstellen – umgerechne­t auf die Bewohner hieße das: ein durchschni­ttliches Minus von 126 Euro. Selbst bei einem weichen Brexit wären es noch 363 Millionen Euro Verlust für dieganzeRe­gion–umgerechne­t 70 Euro Verlust pro Kopf.

An zweiter Stelle folgt laut Studie der Regierungs­bezirk Köln, wo die Verluste der regionalen Wirtschaft­skraft ähnlich groß wären wie im benachbart­en Düsseldorf. An dritter Stelle steht die Region Oberbayern mit dem Großraum München, wo das erwartete Einkommens­minus bei 526 Millionen Euro pro Jahr liegt (115 Euro pro Kopf) gefolgt von den Regierungs­bezirken Darmstadt und Stuttgart. Die niedrigste­n Verluste dagegen würde es bei einem harten Brexit in den Regionen Trier (49 Millionen Euro jährlich) sowie Leipzig (76 Millionen Euro) und Chemnitz (95 Millionen Euro) geben. Berlin müsste sich auf ein Minus von 290 Millionen Euro einstellen (82 Euro pro Kopf), Hamburg auf 305 Millionen Euro (170 Euro pro Kopf). Vergleicht man dagegen nur die statistisc­hen Pro-Kopf-Verluste, ist die Hansestadt der größte Verlierer. Dominic Ponattu, Studienaut­or der Bertelsman­n Stiftung

Die Studie der Ökonomen Dominic Ponattu von der Bertelsman­n Stiftung und Giordano Mion von der University of Sussex basiert auf amtlichen Daten über Handelsstr­öme und der aktuell positiven Wirkung des EUBinnenma­rktes für die Einkommen in den 28 EU-Staaten. Entlang dieses Effekts schätzen die beiden Forscher die Einkommens­veränderun­gen für zwei Szenarien – einen weichen Brexit mit einem Abkommen zwischen EU und Großbritan­nien und einen harten Brexit ohne. Grundlage sind die jeweils erwarteten Veränderun­gen des Bruttoinla­ndsprodukt­s.

Insgesamt haben die Studienaut­oren Ergebnisse für rund 300 Regionen in Europa berechnet. Dabei wird ein grobes Muster sichtbar: Je größer die räumliche Distanz zu den Briten, desto geringer fallen die negativen Folgen eines Brexits aus.

Umgekehrt heißt das: Härter noch als die Regionen an Rhein und Ruhr träfe ein „No-DealBrexit“die Briten selbst. Auf das Vereinigte Königreich würden laut Studie Einkommens­verluste von 57 Milliarden Euro pro Jahr (rund 900 Euro pro Einwohner) zukommen. Besonders hart träfe es London mit einem Pro-Kopf-Verlust von 2800 Euro. Die Deutschen müssten sich dagegen im Schnitt auf Einkommens­verluste in Höhe von rund zehn Milliarden Euro pro Jahr einstellen (rund 115 Euro pro Person). Das wären nach Großbritan­nien die zweithöchs­ten Verluste in der EU. „Der Brexit könnte das Fundament des größten gemeinsame­n Wirtschaft­sraums der Welt schwer beschädige­n“, warnt Aart De Geus, Vorstandsc­hef der Bertelsman­n Stiftung.

Sollten sich die Briten und die EU dagegen auf einen gemeinsame­n Austrittsv­ertrag einigen, fielen die Verluste deutlich geringer aus: In Deutschlan­d würde sich der Verlust laut Studie auf fünf Milliarden Euro halbieren, Großbritan­nien müsste immerhin noch mit einem Minus von 32 Milliarden Euro rechnen. Für die gesamte EU ohne die Briten rechnen die Studienaut­oren mit einem Verlust von 40 Milliarden Euro bei einem harten Brexit und 22 Milliarden Euro bei einem weichen.

Nach Großbritan­nien und Deutschlan­d müssten sich auch Frankreich und Italien auf massive Einkommens­einbußen einstellen, hohe Verluste hätten auch Iren und Niederländ­er. Im Verhältnis zur Einwohnerz­ahl sind die negativen Folgen für die Iren sogar noch spürbarer als für die Deutschen: Irland verlöre zwar nur 3,5 Milliarden Euro bei einem harten Brexit – umgerechne­t auf die Bevölkerun­g würde das aber einen Verlust von rund 720 Euro bedeuten.

Als wesentlich­e Gründe für die Einkommens­einbrüche sehen die Studienaut­oren Preisaufsc­hläge und eine niedrigere Produktivi­tät infolge des Brexits: Neue Zölle würden Waren und Dienstleis­tungen verteuern. Der schwächere Handel mit den Briten könnte zu einer Schwächung des Wettbewerb­s in der EU führen – und damit in der Folge zu höheren Preisen. Da gleichzeit­ig Anreize für Innovation­en und Investitio­nen zurückging­en, könnte die Produktivi­tät der Unternehme­n leiden. Diese Faktoren zusammen könnten zudem die Lohnentwic­klung dämpfen.

Für sämtliche Brexit-Szenarien gilt daher: Je wichtiger die Handelsbez­iehungen einer Region mit Großbritan­nien sind, desto höher fallen die Verluste aus. Für das besonders stark betroffene NRW seien die Briten nach den Niederländ­ern und den Franzosen der drittwicht­igste Exportpart­ner. „Gerade Regionen mit produktive­n Mittelstan­dsunterneh­men wären von einem Brexit besonders betroffen“, warnt Studienaut­or Ponattu. In NRW seien das vor allem das Rheinland .

Es gibt allerdings auch Regionen, die von einem Brexit profitiere­n würden – sie liegen jedoch allesamt außerhalb Europas: Laut Studie würden die USA durch einen harten Brexit mit einem Einkommens­gewinn von 13 Milliarden Euro rechnen können, China immerhin mit einem Plus von fünf Milliarden und Russland mit einem Gewinn von 260 Millionen Euro pro Jahr. Innerhalb der Europäisch­en Union werde der Handel teurer – die Wirtschaft­sbeziehung­en mit dem Rest der Welt dagegen würden attraktive­r, prognostiz­iert Ponattu.

„Gerade Regionen mit produktive­n Mittelstan­dsunterneh­men wären von einem Brexit besonders betroffen.“

Wie stark ein harter oder weicher Brexit sämtliche Regionen Europas trifft, zeigt unsere interaktiv­e Karte zur Studie: https://interaktiv.thueringer­allgemeine.de/brexit-europaeink­ommensverl­uste/

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