„Wolfsjagd“mit Schafen in Bäumen
Das Thüringer Umweltministerium will die Ohrdrufer Mischwölfe jetzt mit allen Tricks erwischen und hat Jägern sogar Maulkörbe verpasst
Tote Schafe baumeln in Bäumen. Hirschkeulen hängen an Stricken von Ästen herab. Mal liegt am Boden ein Wickelbraten vom Reh, mal eine Rehkeule. 60 Meter von den Ködern entfernt steht ein mobiler Hochsitz aus Metall. In der Kanzel, gut getarnt, sitzt und späht ein Schütze. Und wartet. So wird es detailreich geschildert. Und so wartet er schon länger auf den Wolf, präziser gesagt: auf die Halbwölfe von Ohrdruf, die Mischlinge, die im Mai zwei Jahre alt werden – sofern sie dann noch leben.
Genau dies will das Thüringer Umweltministerium aus Gründen des Artenschutzes, um den Grauwolf als Art genetisch zu sichern, tunlichst verhindern. Die Jagd auf die Hybriden, die so genannte Entnahme der mischblütigen Raubtiere aus der Natur, ist deshalb in die heiße Phase eingetreten. Die Maßnahme wird momentan als geheime Kommandosache geführt.
Vor wenigen Tagen haben mehrere Jäger, die ein Revier am Rand des Truppenareals von Ohrdruf haben, wo die Wölfin seit 2014 heimisch ist, ein amtliches Schreiben erhalten, welches ihnen sonderbar erschien.
Das Thüringer Umweltministerium informierte darin über die „Durchführung einer Maßnahme“auf von Jägern gepachteten Flächen bei Ohrdruf. Die Jäger wurden wie folgt angewiesen: Sie müssten die Maßnahme dulden; sie müssten ihre jagdlichen Einrichtungen den vom Ministerium beauftragten Personen zur Nutzung überlassen; sie müssten alles unterlassen, was die Durchführung der Maßnahme behindere.
Damit nicht genug: „Dazu wird den Jagdpächtern und Begehungsscheininhabern das Betreten des Duldungsgebietes im genannten Zeitraum für jagdliche Zwecke untersagt.“So notiert es der Geschäftsführer des Landesjagdverbands, Frank Herrmann, in der jüngsten Ausgabe des „Thüringer Jäger“, dem offiziellen Mitteilungsblatt des Landesjagdverbands.
Schließlich wird den Jägern vom Ministerium noch ein Maulkorb verpasst. „Bis zum Abschluss der Maßnahme sei Dritten gegenüber unbedingtes Stillschweigen zu wahren“, referierte Herrmann den Inhalt des amtlichen Schreibens.
Hätte der „Thüringer Jäger“nicht berichtet, läge wohl weiter der Mantel des Schweigens über diesen „naturschutzfachlichen Maßnahmen“, die das Ministerium auf Nachfrage unserer Zeitung zumindest allgemein bestätigt. Zu Details mag es sich dennoch nicht äußern.
Eines macht der Geheimplan deutlich, den die Jäger als „kalte Enteignung und Entmündigung“durch das grüne Fachressort kritisieren: Die Verantwortlichen um Umweltministerin Anja Siegesmund fürchten offenbar, dass sie die Kontrolle über Entwicklung und Ausbreitung der Wolfsbastarde verlieren. Das hätte nicht nur Konsequenzen für Thüringen, sondern wahrscheinlich für den Wolfsbestand in Deutschland. Die Art wäre genetisch in Gefahr.
Denn die Lage im Wolfsrevier Ohrdruf erscheint brenzliger als angenommen. Das Ministerium geht offiziell von folgender Lage aus: Von den sechs im Mai 2017 geborenen Mischlingswelpen wurden 2018 drei im Auftrag des Freistaats erschossen. Zwei Welpen seien unentdeckt verschwunden. Also gebe es noch einen Rüden, der mit seiner Mutter, der inzwischen sieben Jahre alten Wölfin, durch die Gegend streift und vorzugsweise Schafe sowie Ziegen reißt.
Tatsächlich wurden von den Fotofallen, die rund um Ohrdruf dutzendfach hängen, seit einem Jahr lediglich das Muttertier und ihr Hybridsohn abgelichtet. Das jüngste Foto der Wölfin datiert vom 3. März 2019, das jüngste des männlichen Hybriden vom 19. Februar.
Die auf Fotos gestützte Erkenntnislage des Ministeriums wird von Thüringens Jägern nicht geteilt. Auf den Flächen des Bundesforstes streife zudem „ein weibliches Exemplar der Hybriden umher, welches von Jägern bereits mehrfach gesehen wurde“, betont Jagdverbandsgeschäftsführer Herrmann.
Zwei fortpflanzungsfähige Fähen würden die Gefahr einer artwidrigen Vermehrung schlagartig erhöhen. „Der Hybride wird eher seine Schwester begatten als seine Mutter, wahrscheinlich aber beide“, sagt Friedrich Noltenius, ehemaliger Wolf-Obmann des Landesjagdverbands Sachsen, im Gespräch mit unserer Zeitung. „Es ist nachgewiesen, dass mehrere Rudel von Geschwisterpaaren gegründet worden sind.“
Diese Gefahr ist in Thüringen akut. Denn die Hoch-Zeit der Paarung ist jetzt. Deshalb hat jetzt das Umweltressort seine Maßnahmen zur „Entnahme“intensiviert, bisher ohne Ergebnis. Einmal wurde die Frist bereits um einen Monat auf Ende März gedehnt. Bei anhaltendem Jagdpech könne die Maßnahme weiter verlängert werden, teilte das Ministerium mit.
So weit hätte es nie kommen dürfen, auch nicht müssen, ist der Landesjagdverband gewiss. Denn die „mehr oder weniger regelmäßigen Aufenthaltsorte der Hybriden“seien „seit einem dreiviertel Jahr bekannt“, moniert Frank Herrmann. Aber jetzt erst werde man aktiv.
Die Entscheidung, die als fatal gilt, fiel im November 2017 auf höchster Ebene, mehrere Wochen nachdem das Umweltministerium die Existenz von sechs Hybriden öffentlich gemacht hatte. Ministerin Siegesmund revidierte damals den ursprünglichen Plan und verfügte stattdessen: Die Hybriden sollen eingefangen werden und im Bärenpark von Worbis leben.
Vorsorglich wurde ein Sicherheitsgehege mit ausbruchssicheren Zäunen ausgebaut. Kostenpunkt: knapp 100.000 Euro.
„Ein junger Wolfshybride, der in freier Natur als Wolf sozialisiert aufwächst, ist nicht gehegetauglich. So etwas darf man nicht machen“, sagt Friedrich Noltenius aus Sachsen. „Wer so etwas versucht, macht sich der Tierquälerei schuldig.“
Erst wenn es bis Ende Februar 2018 nicht gelinge, die Mischlinge lebend zu fangen, sei der Abschuss eine Option, erklärte Ministerin Siegesmund Ende 2017. Drei Mischlinge wurden tatsächlich im März 2018 erlegt. Die überlebenden Tiere sind „mittlerweile wahrscheinlich die vorsichtigsten Wölfe in Deutschland“, sagt Noltenius. „Denen wird seit einem Jahr nachgestellt. Die haben gelernt. In der Anfangszeit wäre die Tötung der Hybriden einfach gewesen.“
Aber Tierschützer hätten damals protestiert und das Ministerium habe sich vom zunächst richtigen Kurs ablenken lassen. Das könnte sich nun rächen. „Das Handeln des Umweltministeriums schadet dem Artenschutz“, sagt Noltenius.
Der Wolf ist ein Phänomen. Er polarisiert wie kaum ein zweites Tier. In einem Punkt jedoch herrscht Einigkeit: Der Wolf ist schlau, der Wolf lernt schnell.
In Thüringen beispielsweise haben die Wölfin und ihre Hybriden schnell gelernt, wie ungleich einfacher es ist, Schafe und Ziegen auf Weiden zu reißen als Rehen hinterherzuhetzen. 2017 war die Ohrdrufer Wölfin die mit den meisten Nutztierrissen in Deutschland.
In Niedersachsen zum Beispiel hat die Goldenstedter Wölfin, die lange Zeit auf sich allein gestellt war, hohe Zäune überwunden, um Schafe zu fressen. Als ein Rüde sich ihr beigesellte, kopierte er die Art zu jagen binnen weniger Wochen. „Wenn ein Individuum in einem Territorium diese Technik beherrscht und es kommt ein Rudelpartner hinzu, wird dieser die Jagdtechnik lernen – und deren Nachwuchs lernt es auch“, sagt Noltenius. „Und sie nehmen ihre Fähigkeit mit in ihr zukünftiges Territorium.“
Wie lernfähig Wölfe sind, sagt Zoologie-Professor Hans-Dieter Pfannenstiel von der Freien Universität Berlin, habe er bei der Jagd mehrfach beobachten können. „Zwei Wölfe sind neulich seelenruhig wenige Meter an mir vorbei gelaufen“, berichtete Pfannenstiel bei einer von Fachtagung der Arbeitsgruppe Artenschutz Thüringen (AAT), zu der AAT-Leiter Martin Görner nach Jena eingeladen hatte. „Die Wölfe haben gelernt, dass ihnen bei uns keine Gefahr droht.“
Aus Schweden, wo in bestimmten Regionen jedes Jahr eine Anzahl von Wölfen geschossen wird, um den Bestand auf landesweit 300 Tiere zu regulieren, werde ein sehr interessantes Phänomen berichtet, sagt Noltenius. „Wenn Wölfe in Gebieten besendert werden, in denen noch keine Schutzjagden stattgefunden haben und diese Wölfe also noch keine Jagderlebnisse mit Menschen hatten, erwachen sie langsam aus der Betäubung und ziehen dann friedlich ihrer Wege.“
Aber: „Macht man das Gleiche in einem Gebiet, wo vorher Wölfe bejagt worden sind, dann sieht man nach dem Erwachen nur noch einen grauen Strich in der Landschaft.“
Es gebe nur einen Weg, Wölfen in Deutschland Respekt vor Schafen, Ziegen, Kälbern oder Pferden anzuerziehen, sind Noltenius und Pfannenstiel sich einig: die Jagd auf jene Wölfe, die sich darauf spezialisiert haben, Nutztiere zu reißen und entsprechend große Schäden anrichten.
Dass Wölfe, die ohne Scheu sind, eine Gefahr für Menschen darstellen können, besonders für Kinder, geht aus einer Dokumentation der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags von 2018 hervor.
Die Zusammenstellung unter dem Titel „Wolfsangriffe in Europa, Russland, Asien und Nordamerika“führt aus: „Insgesamt wurden zwischen 2010 und 2018 genau 130 Angriffe von Wölfen auf Menschen registriert, denen 302 Personen – darunter 24 Tote – zum Opfer fielen. Die Ursachen der Angriffe waren nach Überzeugung der Autoren überwiegend räuberischer und grundloser Natur. Tollwut und der Verdacht auf Tollwut waren nur in 25 bzw. sechs Fällen die Ursache der Angriffe.“
Für Indien sei in den Jahren 1980 bis 2000 „von mindestens 273 von Wölfen getöteten Kindern auszugehen“, so eine Studie des Norwegischen Instituts für Naturforschung (NINA) von 2002.
Das bekannteste Ereignis wurde in der Gegend von Gévaudan in Frankreich dokumentiert. „Historischen Dokumenten zufolge kamen im Zeitraum von 1764 und 1767 über 100 Menschen ums Leben.“
Die NINA-Studie folgert aus den Daten: „Die meisten Opfer räuberischer Übergriffe sind Kinder und im geringeren Ausmaß Frauen, was nahelegt, dass die Wölfe selektiv handeln.“
Begünstigt würden die Angriffe durch Tollwut und wenn Menschen Wölfe provozierten. Die Studie nennt zwei weitere Faktoren: „Wenn Wölfe ihre Zurückhaltung Menschen gegenüber verlieren“sowie „Armut der Menschen und schlechter Zugang zu Waffen, so dass die Wölfe ihre Scheu verloren haben könnten“.
Wenn Wölfe Menschen anfallen, kommen sie wohl auf den Geschmack und hören mit der Menschenjagd nicht mehr freiwillig auf. „Sobald Wölfe sich von Menschen ernährten, taten sie es, bis sie selbst getötet wurden“, heißt es der NINA-Studie.
Ihr Fazit lautet, „dass Wölfe in Bezug auf ihre Größe und ihr räuberisches Potenzial zu den am wenigsten gefährlichen Tieren gehören“.
Friedrich Noltenius beruhigt das nicht ganz. „Der Wolf hat keine natürliche Scheu“, sagt er. „Wenn wir uns den Luxus erlauben, weiter unbejagt Wölfe in Deutschland herumlaufen zu lassen, ist es eine Frage der Zeit, wann es den ersten gravierenden Unglücksfall gibt.“
Auf einem Ansitz bei Ohrdruf saß, nach Recherchen unserer Zeitung, vor nicht langer Zeit ein Schütze. Er hatte den Köder für die Wölfe gut im Blick. Aber dann sah er in der Ferne die Wölfin und einen der Hybriden. Und wie sie das Wildschwein fraßen, das sie erlegt hatten.