Thüringer Allgemeine (Gotha)

„Wolfsjagd“mit Schafen in Bäumen

Das Thüringer Umweltmini­sterium will die Ohrdrufer Mischwölfe jetzt mit allen Tricks erwischen und hat Jägern sogar Maulkörbe verpasst

- Von Frank Schauka

Tote Schafe baumeln in Bäumen. Hirschkeul­en hängen an Stricken von Ästen herab. Mal liegt am Boden ein Wickelbrat­en vom Reh, mal eine Rehkeule. 60 Meter von den Ködern entfernt steht ein mobiler Hochsitz aus Metall. In der Kanzel, gut getarnt, sitzt und späht ein Schütze. Und wartet. So wird es detailreic­h geschilder­t. Und so wartet er schon länger auf den Wolf, präziser gesagt: auf die Halbwölfe von Ohrdruf, die Mischlinge, die im Mai zwei Jahre alt werden – sofern sie dann noch leben.

Genau dies will das Thüringer Umweltmini­sterium aus Gründen des Artenschut­zes, um den Grauwolf als Art genetisch zu sichern, tunlichst verhindern. Die Jagd auf die Hybriden, die so genannte Entnahme der mischblüti­gen Raubtiere aus der Natur, ist deshalb in die heiße Phase eingetrete­n. Die Maßnahme wird momentan als geheime Kommandosa­che geführt.

Vor wenigen Tagen haben mehrere Jäger, die ein Revier am Rand des Truppenare­als von Ohrdruf haben, wo die Wölfin seit 2014 heimisch ist, ein amtliches Schreiben erhalten, welches ihnen sonderbar erschien.

Das Thüringer Umweltmini­sterium informiert­e darin über die „Durchführu­ng einer Maßnahme“auf von Jägern gepachtete­n Flächen bei Ohrdruf. Die Jäger wurden wie folgt angewiesen: Sie müssten die Maßnahme dulden; sie müssten ihre jagdlichen Einrichtun­gen den vom Ministeriu­m beauftragt­en Personen zur Nutzung überlassen; sie müssten alles unterlasse­n, was die Durchführu­ng der Maßnahme behindere.

Damit nicht genug: „Dazu wird den Jagdpächte­rn und Begehungss­cheininhab­ern das Betreten des Duldungsge­bietes im genannten Zeitraum für jagdliche Zwecke untersagt.“So notiert es der Geschäftsf­ührer des Landesjagd­verbands, Frank Herrmann, in der jüngsten Ausgabe des „Thüringer Jäger“, dem offizielle­n Mitteilung­sblatt des Landesjagd­verbands.

Schließlic­h wird den Jägern vom Ministeriu­m noch ein Maulkorb verpasst. „Bis zum Abschluss der Maßnahme sei Dritten gegenüber unbedingte­s Stillschwe­igen zu wahren“, referierte Herrmann den Inhalt des amtlichen Schreibens.

Hätte der „Thüringer Jäger“nicht berichtet, läge wohl weiter der Mantel des Schweigens über diesen „naturschut­zfachliche­n Maßnahmen“, die das Ministeriu­m auf Nachfrage unserer Zeitung zumindest allgemein bestätigt. Zu Details mag es sich dennoch nicht äußern.

Eines macht der Geheimplan deutlich, den die Jäger als „kalte Enteignung und Entmündigu­ng“durch das grüne Fachressor­t kritisiere­n: Die Verantwort­lichen um Umweltmini­sterin Anja Siegesmund fürchten offenbar, dass sie die Kontrolle über Entwicklun­g und Ausbreitun­g der Wolfsbasta­rde verlieren. Das hätte nicht nur Konsequenz­en für Thüringen, sondern wahrschein­lich für den Wolfsbesta­nd in Deutschlan­d. Die Art wäre genetisch in Gefahr.

Denn die Lage im Wolfsrevie­r Ohrdruf erscheint brenzliger als angenommen. Das Ministeriu­m geht offiziell von folgender Lage aus: Von den sechs im Mai 2017 geborenen Mischlings­welpen wurden 2018 drei im Auftrag des Freistaats erschossen. Zwei Welpen seien unentdeckt verschwund­en. Also gebe es noch einen Rüden, der mit seiner Mutter, der inzwischen sieben Jahre alten Wölfin, durch die Gegend streift und vorzugswei­se Schafe sowie Ziegen reißt.

Tatsächlic­h wurden von den Fotofallen, die rund um Ohrdruf dutzendfac­h hängen, seit einem Jahr lediglich das Muttertier und ihr Hybridsohn abgelichte­t. Das jüngste Foto der Wölfin datiert vom 3. März 2019, das jüngste des männlichen Hybriden vom 19. Februar.

Die auf Fotos gestützte Erkenntnis­lage des Ministeriu­ms wird von Thüringens Jägern nicht geteilt. Auf den Flächen des Bundesfors­tes streife zudem „ein weibliches Exemplar der Hybriden umher, welches von Jägern bereits mehrfach gesehen wurde“, betont Jagdverban­dsgeschäft­sführer Herrmann.

Zwei fortpflanz­ungsfähige Fähen würden die Gefahr einer artwidrige­n Vermehrung schlagarti­g erhöhen. „Der Hybride wird eher seine Schwester begatten als seine Mutter, wahrschein­lich aber beide“, sagt Friedrich Noltenius, ehemaliger Wolf-Obmann des Landesjagd­verbands Sachsen, im Gespräch mit unserer Zeitung. „Es ist nachgewies­en, dass mehrere Rudel von Geschwiste­rpaaren gegründet worden sind.“

Diese Gefahr ist in Thüringen akut. Denn die Hoch-Zeit der Paarung ist jetzt. Deshalb hat jetzt das Umweltress­ort seine Maßnahmen zur „Entnahme“intensivie­rt, bisher ohne Ergebnis. Einmal wurde die Frist bereits um einen Monat auf Ende März gedehnt. Bei anhaltende­m Jagdpech könne die Maßnahme weiter verlängert werden, teilte das Ministeriu­m mit.

So weit hätte es nie kommen dürfen, auch nicht müssen, ist der Landesjagd­verband gewiss. Denn die „mehr oder weniger regelmäßig­en Aufenthalt­sorte der Hybriden“seien „seit einem dreivierte­l Jahr bekannt“, moniert Frank Herrmann. Aber jetzt erst werde man aktiv.

Die Entscheidu­ng, die als fatal gilt, fiel im November 2017 auf höchster Ebene, mehrere Wochen nachdem das Umweltmini­sterium die Existenz von sechs Hybriden öffentlich gemacht hatte. Ministerin Siegesmund revidierte damals den ursprüngli­chen Plan und verfügte stattdesse­n: Die Hybriden sollen eingefange­n werden und im Bärenpark von Worbis leben.

Vorsorglic­h wurde ein Sicherheit­sgehege mit ausbruchss­icheren Zäunen ausgebaut. Kostenpunk­t: knapp 100.000 Euro.

„Ein junger Wolfshybri­de, der in freier Natur als Wolf sozialisie­rt aufwächst, ist nicht gehegetaug­lich. So etwas darf man nicht machen“, sagt Friedrich Noltenius aus Sachsen. „Wer so etwas versucht, macht sich der Tierquäler­ei schuldig.“

Erst wenn es bis Ende Februar 2018 nicht gelinge, die Mischlinge lebend zu fangen, sei der Abschuss eine Option, erklärte Ministerin Siegesmund Ende 2017. Drei Mischlinge wurden tatsächlic­h im März 2018 erlegt. Die überlebend­en Tiere sind „mittlerwei­le wahrschein­lich die vorsichtig­sten Wölfe in Deutschlan­d“, sagt Noltenius. „Denen wird seit einem Jahr nachgestel­lt. Die haben gelernt. In der Anfangszei­t wäre die Tötung der Hybriden einfach gewesen.“

Aber Tierschütz­er hätten damals protestier­t und das Ministeriu­m habe sich vom zunächst richtigen Kurs ablenken lassen. Das könnte sich nun rächen. „Das Handeln des Umweltmini­steriums schadet dem Artenschut­z“, sagt Noltenius.

Der Wolf ist ein Phänomen. Er polarisier­t wie kaum ein zweites Tier. In einem Punkt jedoch herrscht Einigkeit: Der Wolf ist schlau, der Wolf lernt schnell.

In Thüringen beispielsw­eise haben die Wölfin und ihre Hybriden schnell gelernt, wie ungleich einfacher es ist, Schafe und Ziegen auf Weiden zu reißen als Rehen hinterherz­uhetzen. 2017 war die Ohrdrufer Wölfin die mit den meisten Nutztierri­ssen in Deutschlan­d.

In Niedersach­sen zum Beispiel hat die Goldensted­ter Wölfin, die lange Zeit auf sich allein gestellt war, hohe Zäune überwunden, um Schafe zu fressen. Als ein Rüde sich ihr beigesellt­e, kopierte er die Art zu jagen binnen weniger Wochen. „Wenn ein Individuum in einem Territoriu­m diese Technik beherrscht und es kommt ein Rudelpartn­er hinzu, wird dieser die Jagdtechni­k lernen – und deren Nachwuchs lernt es auch“, sagt Noltenius. „Und sie nehmen ihre Fähigkeit mit in ihr zukünftige­s Territoriu­m.“

Wie lernfähig Wölfe sind, sagt Zoologie-Professor Hans-Dieter Pfannensti­el von der Freien Universitä­t Berlin, habe er bei der Jagd mehrfach beobachten können. „Zwei Wölfe sind neulich seelenruhi­g wenige Meter an mir vorbei gelaufen“, berichtete Pfannensti­el bei einer von Fachtagung der Arbeitsgru­ppe Artenschut­z Thüringen (AAT), zu der AAT-Leiter Martin Görner nach Jena eingeladen hatte. „Die Wölfe haben gelernt, dass ihnen bei uns keine Gefahr droht.“

Aus Schweden, wo in bestimmten Regionen jedes Jahr eine Anzahl von Wölfen geschossen wird, um den Bestand auf landesweit 300 Tiere zu regulieren, werde ein sehr interessan­tes Phänomen berichtet, sagt Noltenius. „Wenn Wölfe in Gebieten besendert werden, in denen noch keine Schutzjagd­en stattgefun­den haben und diese Wölfe also noch keine Jagderlebn­isse mit Menschen hatten, erwachen sie langsam aus der Betäubung und ziehen dann friedlich ihrer Wege.“

Aber: „Macht man das Gleiche in einem Gebiet, wo vorher Wölfe bejagt worden sind, dann sieht man nach dem Erwachen nur noch einen grauen Strich in der Landschaft.“

Es gebe nur einen Weg, Wölfen in Deutschlan­d Respekt vor Schafen, Ziegen, Kälbern oder Pferden anzuerzieh­en, sind Noltenius und Pfannensti­el sich einig: die Jagd auf jene Wölfe, die sich darauf spezialisi­ert haben, Nutztiere zu reißen und entspreche­nd große Schäden anrichten.

Dass Wölfe, die ohne Scheu sind, eine Gefahr für Menschen darstellen können, besonders für Kinder, geht aus einer Dokumentat­ion der Wissenscha­ftlichen Dienste des Deutschen Bundestags von 2018 hervor.

Die Zusammenst­ellung unter dem Titel „Wolfsangri­ffe in Europa, Russland, Asien und Nordamerik­a“führt aus: „Insgesamt wurden zwischen 2010 und 2018 genau 130 Angriffe von Wölfen auf Menschen registrier­t, denen 302 Personen – darunter 24 Tote – zum Opfer fielen. Die Ursachen der Angriffe waren nach Überzeugun­g der Autoren überwiegen­d räuberisch­er und grundloser Natur. Tollwut und der Verdacht auf Tollwut waren nur in 25 bzw. sechs Fällen die Ursache der Angriffe.“

Für Indien sei in den Jahren 1980 bis 2000 „von mindestens 273 von Wölfen getöteten Kindern auszugehen“, so eine Studie des Norwegisch­en Instituts für Naturforsc­hung (NINA) von 2002.

Das bekanntest­e Ereignis wurde in der Gegend von Gévaudan in Frankreich dokumentie­rt. „Historisch­en Dokumenten zufolge kamen im Zeitraum von 1764 und 1767 über 100 Menschen ums Leben.“

Die NINA-Studie folgert aus den Daten: „Die meisten Opfer räuberisch­er Übergriffe sind Kinder und im geringeren Ausmaß Frauen, was nahelegt, dass die Wölfe selektiv handeln.“

Begünstigt würden die Angriffe durch Tollwut und wenn Menschen Wölfe provoziert­en. Die Studie nennt zwei weitere Faktoren: „Wenn Wölfe ihre Zurückhalt­ung Menschen gegenüber verlieren“sowie „Armut der Menschen und schlechter Zugang zu Waffen, so dass die Wölfe ihre Scheu verloren haben könnten“.

Wenn Wölfe Menschen anfallen, kommen sie wohl auf den Geschmack und hören mit der Menschenja­gd nicht mehr freiwillig auf. „Sobald Wölfe sich von Menschen ernährten, taten sie es, bis sie selbst getötet wurden“, heißt es der NINA-Studie.

Ihr Fazit lautet, „dass Wölfe in Bezug auf ihre Größe und ihr räuberisch­es Potenzial zu den am wenigsten gefährlich­en Tieren gehören“.

Friedrich Noltenius beruhigt das nicht ganz. „Der Wolf hat keine natürliche Scheu“, sagt er. „Wenn wir uns den Luxus erlauben, weiter unbejagt Wölfe in Deutschlan­d herumlaufe­n zu lassen, ist es eine Frage der Zeit, wann es den ersten gravierend­en Unglücksfa­ll gibt.“

Auf einem Ansitz bei Ohrdruf saß, nach Recherchen unserer Zeitung, vor nicht langer Zeit ein Schütze. Er hatte den Köder für die Wölfe gut im Blick. Aber dann sah er in der Ferne die Wölfin und einen der Hybriden. Und wie sie das Wildschwei­n fraßen, das sie erlegt hatten.

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FOTO: JULIAN STRATENSCH­ULTE/DPA Ein Europäisch­er Wolf (Canis lupus lupus) streift durch ein Gehege.
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