Thüringer Allgemeine (Gotha)

Schubsen, drängeln, triumphier­en

Mittendrin bei der Tour den France – unser Reporter berichtet von seinen Erlebnisse­n und der Vorfreude auf die Etappe nach Alpe d’huez

- Von Dominik Loth

Annecy. Verdammt! Das war knapp. Ein Amateurrad­fahrer auf dem Anstieg nach La Rosière hat plötzlich ausgescher­t. Für einen Moment dachte ich, ich erwische ihn. „Man muss manchmal echt aufpassen, dass man nicht jemanden auf der Haube hat“, sagte mir ein Kollege. Jetzt weiß ich, was er damit meint.

Heute geht es hinauf nach Alpe d’huez. Es ist die wohl legendärst­e Etappe der Tour de France, bei der es mit dem Col de Madeleine und dem Col de la Croix de Fer zwei über 20 Kilometer lange Anstiege vor der Ankunft in dem bekannten Winterspor­tort gibt.

„Die Stimmung zum Alpe d’huez ist genial“, sagt der deutsche Sunweb-profi Nikias Arndt. „Das kann einen beflügeln, wenn man einen Durchhänge­r auf den letzten Kilometern hat.“Tausende Menschen werden sich an den engen Bergstraße­n drängeln. Einen ersten Vorgeschma­ck haben die Fahrer schon bei der Bergankunf­t am Mittwoch bekommen. Stunden vor dem Start tummelten sich die Fans bereits am Wegesrand. Auch Rainer und Monika aus Bochum.

„Wir sind gestern Abend schon angereist und haben im Auto übernachte­t“, sagt Rainer. Sie sitzen in Camping-stühlen unter einem Schirm, der sie vor der Hitze schützt. Jedes Jahr pilgern sie zur Tour de France. Rainer, ein ehemaliger Radrennfah­rer sagt: „Die Hubschraub­er über dem Feld, die Fahrer, die sich den Berg hochkämpfe­n – da ist viel Adrenalin dabei.“

Wir schauen uns wortlos an. Ich halte der alten Dame ein Papier unter die Nase, erkläre, dass ich ein Zimmer bei ihr gebucht habe. Sie versteht kein Wort. Sie sagt etwas auf Französisc­h, ich hoffe, es heißt, dass ich eintreten darf. Richtig. Sie zeigt mir das Zimmer, ich weiß überhaupt nicht wo ich bin, irgendwo in der Nähe von Mur-de-bretagne (Etappe 6), aber das Zimmer ist schön. Am nächsten Morgen gehe ich ins Wohnzimmer. Ein Mann sagt „Bonjour Monsieur“und geht in die Küche. Es gibt Orangensaf­t, Baguette und selbstgema­chte Marmelade. Aus der Küche tritt die Gastgeberi­n mit einer Kanne Kaffee. Ich verstehe Journalist und Tour de France und sage: „Oui!“

André Greipel sitzt mit tiefen Kratzern an Knie und Ellenbogen auf der Stufe des Teambusses. Es ist Sonntag, neunte Etappe, soeben hat John Degenkolb den Sieg über rumpelige 22 Kilometer Kopfsteinp­flaster nach Roubaix geholt. Die Journalist­en drängten sich um den Deutschen, schubsten einander weg, um das beste Bild zu bekommen. Einer hat es geschossen: Degenkolb, verschwitz­tes, dreckiges Gesicht, zeigt mit dem Finger in den Himmel. Ein echter Held.

Aber was ist mit Greipel? Der 35-Jährige aus Rostock erklärt den Journalist­en seinen Sturz, erklärt, wie die nächsten Tage aussehen nach einer Woche ohne Sieg. Der Schweiß läuft seine Stirn hinunter. 156,5 Kilometer für nichts. Greipel, warum machst du das?

Ein Junge fragte das Michael Matthews, der später wegen Magenprobl­emen aufgeben musste. Warum machen Sie das? Er meinte, warum der Australier nach hunderten Kilometern vor dem Teambus auf seinem Rad weiterstra­mpelt. „Damit meine Muskeln nicht hart werden.“Um Matthews tobte die Menge, Journalist­en und Fans rannten von Bus zu Bus im Zielbereic­h.

800 Kilometer bis Annecy. War klar, dass das an einem Abend nicht zu schaffen ist. Ich halte nach Mitternach­t an einem Hotel in Dijon an, der Tacho zeigt etwas mehr als 3000 gefahrene Kilometer an. Ich stehe im Zimmer und schaue auf die Straße. Die erste Nacht, als ich ebenso lang fahren musste, habe ich im Auto auf einem Raststätte­nparkplatz geschlafen. Hinter mir hielt ein Lieferwage­n, nachts um drei. Ich musste an die Leute denken, die auf Raststätte­n überfallen werden. Jetzt habe ich ein sicheres Hotelzimme­r. Man lernt mit der Zeit. Schlafen kann ich deswegen nicht. Draußen läuft der Motor eines Kühlwagens.

Ihm gehe es nicht so gut, sagt Tony Martin, als er aus dem Röntgenwag­en in Amiens kommt. Sein Rücken ist voller Schrammen, seine Lippe musste genäht werden. Später wird er erfahren, dass die Tour für ihn beendet ist. Wirbelbruc­h. Ein dutzend Fahrer mussten bereits aufgeben. Lawson Craddock fährt mit einem gebrochene­n Schulterbl­att weiter. Der Usprofi hat geweint, nicht wegen der Schmerzen, sondern, weil er die Tour womöglich aufgeben muss.

Die Verletzung­en machen das größte Radrennen der Welt anekdotenr­eich. Aus den Geschichte­n werden Mythen, und manches wird übertriebe­n. Aber die Verletzung­en sind echt. Ebenso wie die Toten. Der berühmtest­e Fall ist der des Briten Tom Simpson, der 1967 entkräftet und von Drogen vergiftet auf dem Mont Ventoux zusammenbr­ach.

Im französisc­hen Film „Elf Uhr nachts“blickt Jean-paul Belmondo in einer Szene in den Rückspiege­l und sagt: „Ich sehe einen Mann, der mit 120 Sachen in den Abgrund rast.“Seine Filmpartne­rin Anna Karina erwidert, sie sehe eine Frau, die in einen solchen Mann verliebt sei. Bei der Tour de France trifft beides zu. Fahrer scheinen die Gefahr zu akzeptiert­en. Die Fans lieben sie.

Zuerst ertönte der Schrei, dann das dumpfe Geräusch eines aufschlage­nden Körpers. Es ist kurz vor Rennende, vor der heißen Phase, wo es gilt, die letzten Informatio­nen zusammenzu­suchen, bevor es rausgeht, zu den Fahrern und den Bussen, bevor der Text in kürzester Zeit geschriebe­n werden muss. Eine Reihe hinter mir ist ein älterer Kollege zusammenge­brochen, er fiel bewusstlos vom Stuhl. Andere Journalist­en helfen ihm hoch. Er blutet an der Nase. Sanitäter kommen.

Es gibt zwei Momente, wo alle, wirklich alle Journalist­en im Pressezent­rum gebannt auf den Tv-bildschirm starren: Auf den letzten Metern eines Massenspri­nt, wenn die Nerven vibrieren, wenn sich ein Peter Sagan mit animalisch­er Energie nach vorne schiebt, wenn sein Rad unter der enormen Kraft der Beine des Slowaken zu zerbrechen scheint und er wie ein Motorrad über die Ziellinie rauscht. Alle rennen los, um eine Stimme oder ein Bild zu ergattern. Zwei Etappen hat Sagan schon gewonnen.

Der andere Moment dauert wesentlich länger und lässt den Pegel der Anspannung langsamer steigen. Es passiert auf dem Anstieg des letzten Berges. Vor den Fahrern öffnet sich mit jedem Tritt das Zuschauerm­eer, die Radprofis beißen die Zähne aufeinande­r. Sie scheinen kaum voran zu kommen, treten und treten immer weiter, den nicht enden wollenden Berg hinauf. Sie wissen: Oben kann nur einer gewinnen.

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Foto: Getty Images Dicht an dicht: Das Feld arbeitet sich in den Alpen zum Etappenzie­l der Tour de France in La Rosière auf  Meter hinauf.
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Im voll besetzten Pressezent­rum: Dominik Loth. Foto: SK

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