Unsere kleine Stadt
Ein Missverständnis: Meiningen hält „Wir sind noch einmal davongekommen“für ein aktuelles Stück
Meiningen. „Es ist“, sagt Sabina „Mitte August und der kälteste Tag des Jahres.“Upps, sind wir ein paar Jahrzehnte nach vorn geprescht und die prognostizierte Erderwärmung hat sich als das nicht minder katastrophale Gegenteil erwiesen? Nein, wir sind vielmehr ein paar Tausend Jahre nach hinten gerutscht und erleben gerade eine Eiszeit. Geschrieben wurde das 1941, da standen die USA kurz vor dem Krieg. Katastrophen, Eis-zeit, Corona-zeit, das muss das Stück der Stunde sein.
Es ist aber nur ein Stück Theatergeschichte.
Thornton Wilder (1897-1975) hat in „Wir sind noch einmal davongekommen“und „Unsere kleine Stadt“gleichsam ein Kompendium der Mittel versammelt, die das Theater bis dahin entwickelt hatte, er jongliert fröhlich mit Anachronismen, die Schauspieler kommentieren ihre Rollen, Spielleiter erklären das Stück, absurdes Theater nicht als Philosophie: als Theater.
Das war einmal modernes Theater. Nach dem Krieg machte das Stück auf den westdeutschen Bühnen Karriere, wir waren ja noch einmal davongekommen, es war ja nach der Katastrophe, und: Thornton Wilder war der Anwalt des kleinen Mannes und seiner Familie. Wir sind auf die Fresse gefallen, macht nichts, wir stehen wieder auf, weiter geht’s.
Der kleine Mann, der ewig kleine und gleiche Mensch, heißt Antrobus; manchmal ruft er aus dem Büro an, um Mrs. Antrobus wissen zu lassen, dass er gerade einen weiteren Buchstaben erfunden hat oder das Rad. Mrs. Antrobus, da sind wir dann eine Katastrophe weiter, die Sintflut, wird die Essbarkeit der Tomate entdecken.
Henry, der Sohn, hingegen ist mitunter schwer genießbar, er hat einen Jungen mit einem Stein erschlagen, es war wohl sein Bruder. Später wird er vom Stein zur Schleuder wechseln, noch später, das ist nach dem Krieg, da wird er General sein und der böse Feind. Und Sabina heißt manchmal Lily, Lilith, die verführende Schlange und Gladys, die hier Claudia heißt, bekommt ein Kind, niemand weiß von wem.
Wir sind also alle da, wir Menschen vom Anbeginn her, wir sind immer noch wie wir waren, wir werden immer so bleiben, durch alle Katastrophen hindurch, wir werden wohl immer noch einmal davonkommen. Und doch, sagt der christliche Humanist Thornton Wilder, und doch sind wir nicht verloren, und doch sind wir Menschen.
Und doch ist das aber Theater, heute.
Die Mehrheit der Stücke, die zur bürgerlichen Klassik rechnen, sind heute eher Lese- als Bühnentexte, zu sehr haben sich Sehgewohnheiten, Bühnenästhetiken verändert, und Theater ist mehr als sein Text.
Aber, so mag man sich in Meiningen gesagt haben, nicht in unserer kleinen Stadt. Das Publikum dieses Theaters ist, was die Kunst, was die Form betrifft, mehrheitlich konservativ, was im Übrigen sein gutes Recht ist und Theaters Pflicht ist es wohl, dem Rechnung zu tragen. So wurde diese Premiere mit einigen „Bravos“bedankt und viel Applaus bedacht. Der Beobachter kann das nur mit Respekt zur Kenntnis nehmen, im Übrigen aber…
Als wären die ersten beiden Akte eine sanfte Theatererheiterung
Und im Übrigen aber bekennen, wie leer ihm dieser Abend erschien. Cornelia Brey hat hinten ein paar kleine Häuschen gebaut und vorn eine große runde Scheibe, schließlich, die Welt dreht sich im Kreis. Aber sie spielen, als bewegten sie sich im Dunstkreis eines branchenüblichen Lustspiels. Tobias Rott, der Regisseur, weiß gewiss, was über dieses Stück zu wissen ist, umso verwunderlicher ist das Resultat.
Er lässt die beiden ersten Akte spielen, als wäre das eine sanfte, eine übliche Theatererheiterung. Mr. Antrobus (Vivien Frey) plauzt im blauen Anzug auf die Bühne, das soeben erfundene Rad dabei, plaudert launig-lustig nach alter Väter Sitte mit der Familie, und die reagiert wie es sich gehört. Die Putze (Nora Hickler) putzt und will mitreden, die Mrs. (Anja Lenßen) plappert, der Postbote (Emil Schwarz in sechs Verwendungen) trägt noch Reste des grünen Dino-kostüms, Henry-kain (Georg Grohmann) soll aufhören mit Steinen zu spielen und seine Schwester (Marie-sophie Weidinger) zeigt Papa, was für ein schlaues Mädchen sie ist.
Das plappert, das plaudert sich so hin und weg. Dabei, eigentlich geht das vermutlich nur als Groteske, als absurde Überdrehung, sodass es doch wenigstens ein Jux wäre und eine Tollerei. Aber es sieht sich hier so an, als wären sie nur halbherzig dabei, als wüssten sie nicht, was mit diesem Text anzufangen sei.
Aber dann. Der dritte Akt, der Krieg ist vorbei. Und jetzt spielen sie, als wäre das Borchert. Und jetzt sind die Darsteller, alle, ein Gespräch zwischen Vater und Sohn Antrobus, deutlich besser, denn jetzt haben sie eine Vorstellung von Rolle und Situation. Aber was sie nicht haben, das sind Figuren, die Höhen und Tiefen haben, die das tragen nach der halbherzigen Lustspielerei. Warum, so fragt die verzweifelte Schauspielerin einmal, warum können wir nicht „Der Raub der Sabinerinnen“spielen. Und der Beobachter nickte dazu.
Weitere Vorstellungen am 17. Oktober, 1.,7. und 28. November.