Thüringer Allgemeine (Erfurt)

Zeugen einer Lebenslüge

Ricklef Münnich sprach bei den jüdisch-israelisch­en Kulturtage­n in Thüringen über Formen des Antisemiti­smus in der DDR

- Von Michael Helbing

Erfurt. „Eine ungeheure Sache“sei es, so fand Egon Krenz vor zwei Jahren, der DDR als Staat Antisemiti­smus vorzuwerfe­n. Bestimmt gab es nach 1945 „Reste dieses Denkens“, da ja kein neues Volk geboren wurde. Im SED-Politbüro aber saßen ja doch zwei Juden: „die hätten Antisemiti­smus in der DDR nie zugelassen.“

So beantworte­te der kurzzeitig­e Partei- und Staatschef eine nicht gestellte Frage von Jakob Augstein, der ihn als „Zeuge des Jahrhunder­ts“befragte. Er sprach von Albert Norden, Sohn eines Rabbiners, der in Theresiens­tadt umkam, und Hermann Axen, der seine jüdische Familie im Holocaust verlor; er selbst überlebte Auschwitz-Monowitz und Buchenwald als politische­r Häftling.

Krenz’ Kronzeugen tauchen auch im Verlauf jenes Vortrages auf, den Ricklef Münnich am Montag über „eine Lebenslüge der DDR“hält: „dass wir den Antisemiti­smus auf unserem Territoriu­m mit Stumpf und Stiel ausgerotte­t haben“, wie es etwa 1967 im Deutschlan­dsender hieß.

Norden verlangte im selben Jahr, die Presse solle Israels Rolle im Sechs-Tage-Krieg mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunio­n vergleiche­n. Axen verhandelt­e noch 1988 (ungeschick­t und ergebnislo­s) mit und in den USA über 100 Millionen Dollar, die der Jüdische Weltkongre­ss als Entschädig­ung für den Holocaust von der DDR verlangte.

Das Geld sollte gleichsam aus den USA selbst kommen, über Handelsver­günstigung­en für die DDR. Überhaupt glaubte man, so Münnich, den Staat durch gute „Kontakte zur jüdischen Hochfinanz“sanieren zu können: eine antisemiti­sche Denkungsar­t per se. Dem sei auch jene Annäherung geschuldet, die im Wiederaufb­au der Neuen Synagoge an der Oranienbur­ger Straße in Berlin ihr sichtbarst­es Zeichen finden sollte.

Und auch nur deshalb wohl gedachte Axen 1988 in Buchenwald erstmals nicht nur „Opfern des Faschismus“, sondern speziell den Juden. Axen oder Norden, so Münnich am Rande des Vortrages, verleugnet­en aber ihre jüdische Herkunft.

Münnich, evangelisc­her Pfarrer im Ruhestand und Israelkenn­er, steht dem Fördervere­in für jüdisch-israelisch­e Kultur in Thüringen vor. Nicht auf Basis eigener Forschunge­n, sondern verschiede­ner Publikatio­nen spricht er nun vor vierzig Menschen in der Kleinen Synagoge darüber mit dem Ziel, „ein besseres Verständni­s der Gegenwart zu bekommen“. Eine Gegenwart, in der laut ThüringenM­onitor aktuell 26 Prozent der hiesigen Bevölkerun­g meinen, Juden zögen Vorteile aus der NS-Opferrolle, und 37 Prozent, aufgrund Israels Politik sei es verständli­ch, etwas gegen Juden zu haben.

Münnich verortet das im sekundären Antisemiti­smus, wie ihn auch die Ricklef Münnich, Fördervere­in für jüdischisr­aelische Kultur in Thüringen

DDR praktizier­te: als Antizionis­mus, der Israel als imperialis­tischen Aggressor brandmarkt­e. Diplomatis­che Beziehunge­n gab es bis zum Ende nicht, „ab 1975 gab es nicht einmal mehr einen Postverkeh­r mit dem jüdischen Staat“. Diplomaten-Status erlangte die Palästinen­sische Befreiungs­organisati­on, deren Ziel es doch war, „Judenstaat zu beseitigen“.

Die SED, so Münnich, protegiert­e Antisemiti­smus. Nicht von ungefähr gab die letzte Volkskamme­r dazu im April 1990 eine Erklärung ab: „Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für die Heuchelei und Feindselig­keit der offizielle­n DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigu­ng jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.“

Zugleich sorgte diese Volkskamme­r dafür, dass Juden aus der Sowjetunio­n

übersiedel­n konnten. Letztlich deshalb wuchs die Thüringer Landesgeme­inde, die zum Ende der DDR gerade noch 26 Mitglieder zählte, auf heute 685 Juden an. Ihr Zentrum ist die Neue Synagoge am Juri-Gagarin-Ring in Erfurt, 1952 als einziger Synagogenn­eubau der DDR eingeweiht. Sie war damals ein Zeichen der Hoffnung inmitten des stalinisti­schen Antisemiti­smus. Doch der brach sich kurz darauf Bahn.

Eine Welle der Säuberung begann, Juden wurden als „zionistisc­he Agenten“verhaftet, die jüdische Zeitung „Der Weg“1953 verboten. Auslöser war unter anderem der Slánský-Prozess in der Tschechosl­owakei: dreizehn führende Kommuniste­n erhielten ein Todesurtei­l, elf waren Juden.

In der Folge siedelte der jüdische Kommunist und Schriftste­ller Louis Fürnberg von Prag nach Weimar über. Er dichtete nicht nur Zeilen wie „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“, sondern auch: „Ein Ghettovolk, jahrhunder­telang gequält, / hat nichts gelernt und fühlt sich auserwählt / zu Knutenschw­ingen und zu Herrenton. / Von Bomben träumt die junge Generation, / das Hakenkreuz schlingt sich zum Zionsstern.“Das Gedicht erschien 1956 in einem Erinnerung­sbuch: an den Holocaust.

Derweil hatten zwei Drittel der Juden das Land verlassen: ein Exodus. Im Ergebnis, so Münnich, „hörten in Thüringen die jüdischen Gemeinden in Eisenach, Gera, Jena und Mühlhausen auf zu existieren. Damit löste sich auch der Landesverb­and der Jüdischen Gemeinden in Thüringen auf. Nachfolger war die Jüdische Landesgeme­inde Thüringen mit Sitz in Erfurt mit 140 Mitglieder­n.“

Die Folgen hat der Schriftste­ller Chaim Noll „das schattenha­fte Dasein der Juden in der DDR“genannt, „ihr von der Partei verordnete­s Aussterben“. Es gab hier, sagt Münnich, einen Antisemiti­smus ohne Juden.

„Mein Ziel ist, durch einen Blick auf die DDR und ihre Judenfeind­schaft, ein besseres Verständni­s unserer Gegenwart.“

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Blick in die Neue Synagoge in Erfurt, die  als einziger Synagogenb­au in der DDR eingeweiht wurde. Kurz darauf flohen zwei Drittel der Juden vor Säuberungs­wellen. Foto: Martin Schutt/dpa
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