Zeugen einer Lebenslüge
Ricklef Münnich sprach bei den jüdisch-israelischen Kulturtagen in Thüringen über Formen des Antisemitismus in der DDR
Erfurt. „Eine ungeheure Sache“sei es, so fand Egon Krenz vor zwei Jahren, der DDR als Staat Antisemitismus vorzuwerfen. Bestimmt gab es nach 1945 „Reste dieses Denkens“, da ja kein neues Volk geboren wurde. Im SED-Politbüro aber saßen ja doch zwei Juden: „die hätten Antisemitismus in der DDR nie zugelassen.“
So beantwortete der kurzzeitige Partei- und Staatschef eine nicht gestellte Frage von Jakob Augstein, der ihn als „Zeuge des Jahrhunderts“befragte. Er sprach von Albert Norden, Sohn eines Rabbiners, der in Theresienstadt umkam, und Hermann Axen, der seine jüdische Familie im Holocaust verlor; er selbst überlebte Auschwitz-Monowitz und Buchenwald als politischer Häftling.
Krenz’ Kronzeugen tauchen auch im Verlauf jenes Vortrages auf, den Ricklef Münnich am Montag über „eine Lebenslüge der DDR“hält: „dass wir den Antisemitismus auf unserem Territorium mit Stumpf und Stiel ausgerottet haben“, wie es etwa 1967 im Deutschlandsender hieß.
Norden verlangte im selben Jahr, die Presse solle Israels Rolle im Sechs-Tage-Krieg mit dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion vergleichen. Axen verhandelte noch 1988 (ungeschickt und ergebnislos) mit und in den USA über 100 Millionen Dollar, die der Jüdische Weltkongress als Entschädigung für den Holocaust von der DDR verlangte.
Das Geld sollte gleichsam aus den USA selbst kommen, über Handelsvergünstigungen für die DDR. Überhaupt glaubte man, so Münnich, den Staat durch gute „Kontakte zur jüdischen Hochfinanz“sanieren zu können: eine antisemitische Denkungsart per se. Dem sei auch jene Annäherung geschuldet, die im Wiederaufbau der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin ihr sichtbarstes Zeichen finden sollte.
Und auch nur deshalb wohl gedachte Axen 1988 in Buchenwald erstmals nicht nur „Opfern des Faschismus“, sondern speziell den Juden. Axen oder Norden, so Münnich am Rande des Vortrages, verleugneten aber ihre jüdische Herkunft.
Münnich, evangelischer Pfarrer im Ruhestand und Israelkenner, steht dem Förderverein für jüdisch-israelische Kultur in Thüringen vor. Nicht auf Basis eigener Forschungen, sondern verschiedener Publikationen spricht er nun vor vierzig Menschen in der Kleinen Synagoge darüber mit dem Ziel, „ein besseres Verständnis der Gegenwart zu bekommen“. Eine Gegenwart, in der laut ThüringenMonitor aktuell 26 Prozent der hiesigen Bevölkerung meinen, Juden zögen Vorteile aus der NS-Opferrolle, und 37 Prozent, aufgrund Israels Politik sei es verständlich, etwas gegen Juden zu haben.
Münnich verortet das im sekundären Antisemitismus, wie ihn auch die Ricklef Münnich, Förderverein für jüdischisraelische Kultur in Thüringen
DDR praktizierte: als Antizionismus, der Israel als imperialistischen Aggressor brandmarkte. Diplomatische Beziehungen gab es bis zum Ende nicht, „ab 1975 gab es nicht einmal mehr einen Postverkehr mit dem jüdischen Staat“. Diplomaten-Status erlangte die Palästinensische Befreiungsorganisation, deren Ziel es doch war, „Judenstaat zu beseitigen“.
Die SED, so Münnich, protegierte Antisemitismus. Nicht von ungefähr gab die letzte Volkskammer dazu im April 1990 eine Erklärung ab: „Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für die Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.“
Zugleich sorgte diese Volkskammer dafür, dass Juden aus der Sowjetunion
übersiedeln konnten. Letztlich deshalb wuchs die Thüringer Landesgemeinde, die zum Ende der DDR gerade noch 26 Mitglieder zählte, auf heute 685 Juden an. Ihr Zentrum ist die Neue Synagoge am Juri-Gagarin-Ring in Erfurt, 1952 als einziger Synagogenneubau der DDR eingeweiht. Sie war damals ein Zeichen der Hoffnung inmitten des stalinistischen Antisemitismus. Doch der brach sich kurz darauf Bahn.
Eine Welle der Säuberung begann, Juden wurden als „zionistische Agenten“verhaftet, die jüdische Zeitung „Der Weg“1953 verboten. Auslöser war unter anderem der Slánský-Prozess in der Tschechoslowakei: dreizehn führende Kommunisten erhielten ein Todesurteil, elf waren Juden.
In der Folge siedelte der jüdische Kommunist und Schriftsteller Louis Fürnberg von Prag nach Weimar über. Er dichtete nicht nur Zeilen wie „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“, sondern auch: „Ein Ghettovolk, jahrhundertelang gequält, / hat nichts gelernt und fühlt sich auserwählt / zu Knutenschwingen und zu Herrenton. / Von Bomben träumt die junge Generation, / das Hakenkreuz schlingt sich zum Zionsstern.“Das Gedicht erschien 1956 in einem Erinnerungsbuch: an den Holocaust.
Derweil hatten zwei Drittel der Juden das Land verlassen: ein Exodus. Im Ergebnis, so Münnich, „hörten in Thüringen die jüdischen Gemeinden in Eisenach, Gera, Jena und Mühlhausen auf zu existieren. Damit löste sich auch der Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Thüringen auf. Nachfolger war die Jüdische Landesgemeinde Thüringen mit Sitz in Erfurt mit 140 Mitgliedern.“
Die Folgen hat der Schriftsteller Chaim Noll „das schattenhafte Dasein der Juden in der DDR“genannt, „ihr von der Partei verordnetes Aussterben“. Es gab hier, sagt Münnich, einen Antisemitismus ohne Juden.
„Mein Ziel ist, durch einen Blick auf die DDR und ihre Judenfeindschaft, ein besseres Verständnis unserer Gegenwart.“