Thüringer Allgemeine (Eisenach)
Das Schweigen
Vor 35 Jahren explodierte der Reaktor in Tschernobyl: Eckhart Dittrich aus Gera erlebte in Kiew die Tage danach
Gera. Als in der Nacht zum 26. April im Atomkraftwerk von Tschernobyl der Reaktor Nummer vier explodierte, saß Eckhart Dittrich in Berlin auf gepackten Koffern. Als zukünftiger Mitarbeiter im Konsulat von Kiew sollte er Ddr-fachleute in der Ukraine konsularisch betreuen. In wenigen Tagen ging sein Flug. Gerade hatte Michail Gorbatschow als Ehrengast auf dem XI. Sed-parteitag bei den Genossen Selbstkritik angemahnt, das war mit Blick auf Moskau das dominante Thema in seiner Abteilung im Außenministerium. Ein Reaktorunglück? Davon war erst einige Tage später die Rede, nachdem im Ministerium erste Depeschen aus der Moskauer Ddrbotschaft eingingen.
Die Informationen waren mager, gingen aber trotzdem weit über das hinaus, was ein einfacher Bürger in diesen ersten Tagen aus den Ddrmedien erfuhr. Immerhin stand kurz die Frage, ob das Personal aus dem Kiewer Konsulat abgezogen werden sollte. Die Stadt ist keine 130 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Eckhart Dittrich telefonierte mit dem Generalkonsul in Kiew. Alles nicht so schlimm, hieß es von dort. Keine Panik. Am 5. Mai saß er im Flugzeug.
Im Ddr-konsulat: Keine Panik!
Am Flughafen Borispol empfingen ihn seine Kollegen mit den Worten: In Kiew spitzt sich die Situation zu. Er kann sich noch an seine Verwirrung erinnern: Was meinen sie? Eine erste Ahnung bekam er schon auf der Fahrt in die Stadt. Vier Mal wurden sie angehalten, Polizisten untersuchten mit Geigerzählern die Autoreifen, sprühten sie mit Wasser ab. Im Konsulat erzählten sie, dass die Ungarn und Polen ihre Konsulatsmitarbeiter nach Hause geschickt hatten, in der Tschechoslowakischen Vertretung gab es nur noch eine Notbesetzung. Später erfuhr er, dass ihnen die sowjetische Seite für ihr Bleiben gedankt hat. Moskau wollte die Katastrophe um jeden Preis klein reden, die Ddrführung spielte bereitwillig mit. Im Konsulat wurde Tschernobyl kleingeredet und weggeschwiegen, den Mitarbeiter wies man an, gegenüber den ukrainischen Angestellten das Thema nicht anzusprechen.
Alles nicht so schlimm, keine Panik.
Er lief durch die Stadt. Der Hauptbahnhof war von hunderttausenden Menschen belagert. Sie harrten auf dem großen Platz aus, in der Halle, an den Gleisen, in der Hoffnung eine Fahrkarte zu ergattern. Wohin? Irgendwohin. Hauptsache weg von hier, so weit wie möglich. Auf den Bahnsteigen verabschiedeten Eltern ihre Kinder, versuchten sie in einen der überfüllten Sonderzüge zu setzen, übergaben sie den wenigen Betreuern, steckten ihnen noch eilig Zettel mit Namen und Adresse zu. Manche wussten nicht, wohin die Kinder fahren würden, als sie ihnen den Koffer packten.
Auf dem Basar patrouillierten Kontrolleure mit Geigerzählern zwischen Erdbeerbergen und Kräuterbündeln, Händler und die alten Mütterchen durften nichts mehr verkaufen, was von den nahen Äckern kam. Für „saubere Ware“gab es Zertifikate mit mehreren Stempeln, aber auch die waren verkäuflich. Durch die Straßen fuhren Lkw mit Wassertanks und sprühten die Straßen und Bäume ab.
Und das alles wurde kaum kommentiert, kaum erklärt. Das lokale Radio forderte auf, die Kinder aus der Stadt zu bringen, und warnte vor dem Genuss von frischem Obst und Gemüse. Worum es wirklich ging, erfuhren die Menschen in diesen ersten Tagen nicht. Trotz Glasnost, trotz Perestroika. Gorbatschow brauchte 18 Tage, um sich in einer Fernsehansprache an die Öffentlichkeit zu wenden.
Die Menschen, erinnert sich Eckhart
Dittrich, waren angespannt, wussten von einer unbekannten Gefahr. Angst lag in der Luft, aber die schien in diesen Frühlingstagen, ungreifbar, lauernd. Aus der Stadt, die im Mai am schönsten ist, verschwanden nach und nach die Kinder.
Er schrieb seine Beobachtungen auf, der Bericht wurde wohl nach Berlin geschickt, sagt er. Aber Papier ist geduldig.
Die Friedensfahrt startete in diesem Mai in Kiew dennoch. Bei strahlendem Wetter, wie sich mache sarkastisch zuraunten. Und auch die DDR zog ihre Mannschaft nicht zurück. Die Sportler, die Fragen stellten, wurden mit Beschwichtigungen abgespeist, weiß er. Nur keine Panik…
Nach etwa drei Wochen tauchte im Konsulat eine Videokassette auf.
Woher sie kam, hat er nie erfahren, an die Bilder erinnert er sich bis heute: Der geborstene Reaktor und darüber die Hubschrauber, die Blei und Beton in die klaffende Schlucht des Kernreaktors abwarfen.
Alles halb so schlimm? Ein „Zwischenfall“? Die Bilder waren das dramatische Gegenteil dessen, was man den Menschen damals versuchte zu erzählen.
Wahrheit sickert nur langsam durch Jahre später, es war schon nach der Wende und er hatte in Kiew ein Unternehmen aufgebaut, erfuhr er von seinem ukrainischen Büroleiter Einzelheiten über diesen Einsatz. Er hatte damals zu den Männern gehört, die in Tschernobyl die Hubschrauberpiloten nach dem Flug in Empfang nahmen und versorgten. Er sprach darüber, wie sie reihenweise umfielen nach ihrem Einsatz, wie viele von ihnen später starben – an den Folgen der Strahlendosis über dem geborstenen Reaktor. Auch sein Büroleiter war krank, die Schilddrüse, und wohl auch Krebs. Genaues sagte er nie. Wie jeder Liquidator, wie diese Männer später genannt wurden, war er zum Schweigen verpflichtet.
Die Liquidatoren wurden später als Helden geehrt, und das waren sie auch. Nachdem man sie nach Tschernobyl schickte, wo die ersten von ihnen den radioaktiven Schutt mit Schaufeln und manchmal mit den Händen abtrugen.
Vom wahren Ausmaß der Katastrophe erfuhren die Menschen erst Jahre später. Von den Toten, den Kranken, von der auf Generationen verstrahlten Erde. Doch auch in jenem Frühjahr sickerten immer mehr Informationen über die Tragödien durch, die sich kaum 100 Kilometer weiter abgespielt haben, sie erreichten auch das Ddr-konsulat.
Man erfuhr dort lange nicht alles, aber genug, um zu wissen, dass es kein Zwischenfall war. Er sei, sagt Eckart Dittrich, als überzeugter Bürger der DDR nach Kiew gegangen. Das Vertuschen und Kleinreden von Tschernobyl hatte seiner Gewissheit erste große Risse zugefügt.
Er betreute noch bis 1989 Ddrarbeiter in der Ukraine. Eheschließungen, Personalfragen, kleine Vorkommnisse mit ukrainischen Behörden… Die Wende beendete seinen gerade erst begonnen diplomatischen Dienst, aber das ist eine andere Geschichte, er hat sie in einem Buch aufgeschrieben: „Ein Leben in Ost und West“. Seine Firma in Kiew musste er schließen, der Kontakt zu seinem einstigen Büroleiter brach irgendwann ab. Er fürchte, sagt Eckhart Dittrich, dass er seine Krankheit nicht überlebt hat.
„Angst lag in der Luft, aber die schien in diesen Frühlingstagen, ungreifbar, lauernd.“