Thüringer Allgemeine (Eisenach)
„Im Westen ist es kalt“
Bonner Ex-intendant erinnert sich an seine Geraer Kindheit und die Flucht in den Westen
Gera/bonn. „Von der glücklichen Kindheit in Gera ins Elend des Westens“– so erlebte der ehemalige Intendant der Theater Bonn und Oberhausen, Klaus Weise, die Flucht seiner Familie in den 50erjahren. Seine Erinnerungen an die Kindheit und frühe Jugend hat der 69-Jährige in einem autobiografischen Roman niedergeschrieben. Der Titel „Sommerleithe“bezieht sich auf die gleichnamige Straße in Gera, in der Weise aufwuchs.
Eigentlich geht es der Familie damals sehr gut. Der Vater betreibt eine eigene Fleischerei, man geht ins Theater, isst in der „Quisisana“. In der Sommerleithe ist die Metzger-familie die erste, die einen Fernseher besitzt. Läuft etwa Sport, ist das Wohnzimmer voll, und es geht hoch her. Zuweilen muss Klaus dann die Antenne halten.
Doch der Vater ist ein freiheitsliebender Mensch, der Angst hat, enteignet zu werden. „Er wollte nie Angestellter sein, nie Befehlsempfänger“, sagt der Bonner Regisseur. Und so entschließen sich die Eltern, 1958 in den Westen zu fliehen. Den
Kindern erzählen sie, dass sie in den Urlaub fahren. Doch die merken, dass etwas nicht stimmt. Im Sommer warme Sachen anziehen, macht stutzig, auch wenn es zur Begründung heißt: Im Westen sei es kalt. Den Eltern geht es freilich darum, unauffällig so viel Hab und Gut wie möglich mitzunehmen.
In Berlin eröffnen sie dann den Kindern ihre Pläne. „Das war ein Schlag ins Kontor“, erinnert sich Klaus Weise. Tags darauf steigt die Familie ins Flugzeug gen Hannover. Die Zeit, die nun folgt, ist geprägt von den bedrückenden Umständen des Aufnahmelagers, von diversen Umzügen, einfachsten Unterkünften und vor allem von Ablehnung. „Man war nicht willkommen“, sagt der Autor. Der Dialekt und die Sachen verraten schnell die Herkunft.
Anfangs kommen noch Briefe von der Stadt Gera, mit der Bitte zurückzukommen. Die Familie müsse nichts fürchten und dürfe die Fleischerei behalten, heißt es darin. Während die Mutter nur allzu gern dem Ruf gefolgt wäre, lehnt der Vater, ein durchsetzungsfähiger Patriarch, ab.
Zu lange hat ihm das System die sprichwörtliche Luft zum Atmen abgeschnürt.
In den Wirtschaftswunderjahren bauen sich auch die Ostthüringer wieder etwas auf. Im Ruhrgebiet übernimmt der Vater eine große Metzgerei. Für den inzwischen herangewachsenen Klaus kein Grund zur Freude. Als junger Rebell beschimpft er die Eltern als Ausbeuter. Der Roman endet mit seinem Studium an der Filmakademie in München.
Weise wirft einen Blick auf beide politischen Systeme. Er erzählt hart und betroffen machend, aber auch witzig und leicht vom Verlust von Heimat und Sprache aus Sicht eines Sechsjährigen. „Die Flucht gehört zur deutschen Geschichte“, sagt er. Das dürfe man auch bei der Beurteilung heutiger Flüchtlinge nicht vergessen.
Der Theatermann richtet seinen Fokus bewusst auf eine Zeit, die Film und Literatur bislang weitgehend ausgespart haben – die Jahre vor dem Mauerbau. „Dabei flohen bis 1961 drei Millionen Menschen in den Westen“, betont er.
Gera hat er zwar später wieder besucht, seine alte Heimat in der Sommerleithe Klaus Weise: Sommerleithe – Wortbegehung einer Kindheit diesseits und jenseits der Zonengrenze. Elsinor Verlag, Coesfeld, 312 Seiten, 24 Euro