Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Das Em-puzzle
Viele Erkenntnisse lieferte das deutsche Länderspiel nicht. Bundestrainer vor Partie in Estland noch in der Findungsphase
Dass Fußball ein schnelllebiges Geschäft ist, ist keine neue Erkenntnis. Dass es aber nicht einmal 24 Stunden dauern sollte, ehe der Stuhl, von dem aus am späten Mittwochabend Joachim Löw das erstaunliche 2:2 gegen Argentinien erklären musste, neu besetzt wurde, überraschte dann doch. Und es war kein Geringerer als Jürgen Klopp, der fleischgewordene Liebling der Fußballnation, der nur einen Tag nach dem Remis gegen La Albiceleste auf eben jenen Löw folgen sollte.
Was sich zunächst nach einer echten Sensation anhörte, war natürlich nichts anderes als ein kleiner Zufall. Denn selbstverständlich hatten Klopps Ausführungen im pickepackevollen Raum Borussia im Signal-idunapark am Donnerstagabend rein gar nichts mit der Nationalmannschaft oder auch mit Trainer Löw zu tun. Viel mehr flog der Liverpool-coach kurz aus seiner Wahlheimat auf der Insel ein, um an alter Wirkungsstätte das biografische Buch seines Freundes und Bvb-chefs Hansjoachim Watzke vorzustellen.
Löw, die Nationalmannschaft und das zwiespältige 2:2 gegen Argentinien waren aber auch unabhängig vom Kurzbesuch Klopps, den viele Fußballfans tatsächlich gerne früher oder später als neuen Bundestrainer sehen wollen würden, ein Thema am Donnerstag in Dortmund. Die zentrale Frage, die sich die meisten stellten: Welche Erkenntnisse lieferte nun das Duell der B-teams aus Deutschland und Argentinien?
Eine simple Frage, auf die es natürlich nur eine höchst – oder wie Löw sagen würde: högschd – komplizierte Antwort drauf gibt. Bei 14 Ausfällen, darunter Leistungsträger wie Leroy Sané oder Toni Kroos, blieb der Mehrwert der Neuauflage des Wm-finales von 2014 einerseits nur bedingt. Andererseits konnten dann aber diejenigen, die sich gegen Argentinien dann doch einsatzbereit zeigten, sehr wohl Löws neue Spielidee sehr anschaulich präsentieren. Zumindest für 60 Minuten.
„Wir hatten viele gute Ballgewinne, haben dann immer sehr schnell nach vorne gespielt“, sagte Leverkusens Kai Havertz, der einer der Hauptfiguren von Löws neuem Faible für das schnelle Umschaltspiel werden könnte. Während seine Mannschaft noch einen Monat zuvor, beim 2:4 gegen die Niederlande, mit dem geforderten Überfallfußball zu fremdeln schien, zeigte Löws Team in der ersten Halbzeit am Mittwochabend, dass der mutmaßliche Außenseiterfußball möglicherweise doch gar nicht so eine schlechte Idee ist. Vielleicht auch deswegen, weil das DFB-TEAM ein Dreivierteljahr vor der Europameisterschaft eben genau dies ist: ein Außenseiterteam. „Ich gehe nicht davon aus“, hatte Dfb-direktor Oliver Bierhoff schon vor dem Argentinienspiel proaktiv angekündigt, „dass wir als Mitfavorit zur EM fahren.“
Bierhoffs Worte untermauerten im zweiten Durchgang nicht nur die erschöpften Spieler, die den Südamerikanern ab dem ersten Gegentor durch Bayers Lucas Alarìo nicht mehr viel entgegen setzen konnten. Auch Löw bewies einmal mehr, dass er sich durchaus schwer mit Veränderungen während eines Spiels tut. Auf die argentinischen Umstellungen reagierte der Nationaltrainer nicht – und hatte so auch einen Anteil daran, dass die in der ersten Halbzeit sehr gut funktionierende Fünferkette zum Ende des zweiten Durchgangs immer mehr zur Fehlerkette mutierte.
Auch das Personalpuzzle dürfte Löw in den kommenden Monaten bis zur EM noch so einige Kopfzerbrechen bereiten. So hat der Bundestrainer für seine Spielidee in der Offensive zwar die Qual der Wahl, sobald alle wieder fit sind. Allerdings scheint im Hier und Jetzt nur Bayerns Serge Gnabry als essenzielles Puzzleteil festzustehen. Löw: „In den letzten Monaten hat Serge bei uns überragende Spiele und einen unglaublichen Schritt nach vorn gemacht.“
Neben Gnabry dürfte Löw langfristig vor allem auf eine vollständige Genesung von Kreuzbandpatient Sané hoffen, sich zudem noch über Marco Reus, Timo Werner, Julian Brandt, Kai Havertz und vielleicht auch über Neuling Luca Waldschmidt und den verletzten Julian Draxler so seine Gedanken machen. Immerhin: Gegen Estland könnten am Sonntag (20.45 UHR/RTL) bereits Reus und Werner in die Startelf zurückkehren und Gnabry beim Versuch, dem 8:0 aus dem Hinspiel nachzueifern, unterstützen.
Der kommende Gruppengegner bleibt in der Em-qualifikation sieglos. Das Team von Trainer Karel Voolaid verbuchte gestern beim 0:0 gegen Weißrussland aber immerhin in der seinen ersten Punkt in der Gruppe C.
„Estland ist ein ganz anderer Gegner als Argentinien“, wusste Puzzlemeister Löw schon am Mittwochabend. „Estland spielt zurückgezogen. Sie verteidigen in erster Linie ihr Tor. Da brauchen wir einen offensiven Spieler mehr auf dem Platz. Da wird es Wechsel geben.“
Und Klopp? Der will offenbar gar nicht puzzeln. „Stand heute habe ich keine Lust“, antwortete der Liverpool-coach bei Mangenta TV auf die Frage nach seinen Bundestrainer-ambitionen. „Ich könnte auch gar nicht hundertprozentig sagen, ob ich der Richtige wäre.“
Darüber kann man wahrscheinlich trefflich streiten, aber die Frage wäre damit beantwortet. Fürs erste zumindest.