Thüringer Allgemeine (Eichsfeld)
Eine Stadt im Schockzustand
Nach dem Terroranschlag auf die Synagoge sucht Halle nach Antworten. Der Bundespräsident fordert klare Haltung gegen Rechtsextremismus
Schützend legt Christina Feist ihre Hand um das flackernde Licht. Vorsichtig stellt sie die Kerze auf dem Boden ab, direkt an der Mauer der Synagoge. Dem Gotteshaus, in dem sie vor weniger als 24 Stunden um ihr Leben bangte. Sie habe gerade gebetet, als plötzlich ein lauter Knall zu hören war: „Dann habe ich Rauch gesehen.“Über die Überwachungskamera hätten die Gemeindemitglieder „einen Mann in voller Kampfmontur“entdeckt – und dass eine wohl tote Person auf der Straße lag. Eine 40 Jahre alte Frau, die zufällig am Tatort vorbeikam. Attentäter Stephan B., der vergeblich versucht hatte, in die Synagoge einzudringen, hat ihr in den Rücken geschossen.
„Ich habe noch die Mitteltür verbarrikadiert“, sagt die aus Wien stammende Christina Feist. Alle hätten blitzschnell reagiert, sich gegenseitig geholfen. Nur die Polizei, die sei nicht blitzschnell da gewesen: „Gute 15 bis 20 Minuten hat es gedauert, bis die Polizisten hier waren“, sagt sie. „Und überhaupt, warum gab es keinen Polizeischutz vor der Synagoge?“
Tag eins nach dem antisemitischen Anschlag in Halle, bei dem zwei Menschen starben: Die Stadt liegt in Schockstarre. Die Ausgangssperre, die die Polizei am Mittwoch verhängt hatte, ist längst aufgehoben. Dennoch sind am Morgen die Straßen noch wie leergefegt. Die Bäckerei neben der Synagoge ist zu, das Café um die Ecke ebenfalls: „Aufgrund der gestrigen Vorkommnisse bleibt das Café geschlossen“, steht auf einem Zettel an der Tür. „Gestrige Vorkommnisse“– das klingt seltsam nüchtern. Vor der Synagoge legen gerade einige Menschen Blumen ab, ein paar Kerzen werden aufgestellt und angezündet. Jetzt sind jede Menge Polizisten vor Ort. Gemeindevorsteher Max Privorozki, der in seine Synagoge will, muss erst mal vor der Tür warten. „Die Polizei hat abgeschlossen“, sagt er. Er wirkt zwar gefasst, aber auch immer noch empört.
Privorozki wirft der Polizei Versagen vor: Erst habe es keinerlei Schutz im Vorfeld gegeben, dann hätte die Reaktion auf seinen Notruf zu lange gedauert. Statt sofort jemanden loszuschicken, hätte der Notruf-mitarbeiter Formalitäten abgefragt. „Ich habe geschrien: Hier sitzen 80 Leute, es wird geschossen“, erzählt Privorozki. „Und dann will er meinen Namen wissen.“Geholfen hätten ihm nicht die deutschen Behörden, sondern „ein Wunder“, sagt Privorozki. „Es ist ein Wunder, dass die Türen gehalten haben.“Und tatsächlich, wirft man einen Blick auf die alte Holztür, an der die Einschusslöcher zu erkennen sind, versteht man, was er meint. Kein Panzerglas, nirgends. Den einzigen Sicherheitsluxus, den sich die Gemeinde leistet, ist eine Überwachungskamera. Jeder, der in die Synagoge will, muss zuerst klingeln, ein kurzer Check über die Kamera, dann erst wird die Tür geöffnet.
Die geringe Polizeipräsenz ist auch den Nachbarn der Synagoge aufgefallen. „Ich habe wenig Polizeiautos hier gesehen“, sagt Benjamin Leins, er wohnt schräg gegenüber. Auch er hat die Schüsse gehört. Jetzt will er etwas tun: Gerade hat er zusammen mit einer Nachbarin ein großes weißes Tuch aus dem Fenster gehängt: „Humboldtstraße gegen Antisemitismus und Hass“, steht darauf. „Uns war es wichtig, möglichst schnell ein Zeichen zu setzen, dass wir uns mit der jüdischen Gemeinde solidarisieren und die Tat verabscheuen“, sagt er.
Leins studiert Kirchenmusik, ist in der evangelischen Kirche im Paulusviertel, in dem auch die Synagoge liegt, aktiv. Mit dem Rabbiner der Synagoge habe er vor dem Anschlag schon Kontakt gehabt, der sei freundlich, aber reserviert. Man bleibe unter sich in Halle. „Ich glaube aber schon, dass die Anteilnahme da ist bei den Menschen hier“, sagt Leins. „Aber viele haben einfach keine Erfahrung mit politischem Engagement.“„Halle ist nicht ignorant“, sagt auch Manuela Jakob. Die Lehrerin wohnt ebenfalls in der Nachbarschaft, in der Hand hält sie einen Strauß Chrysanthemen, den will sie gleich niederlegen. „Wir sind bloß noch im Schock, denke ich.“
Wenige Straßen weiter, am zweiten Tatort, dem Döner-imbiss („Kiez-döner“), wurde ein Mann erschossen. Hier gibt es kaum Presse und Kameras, dafür liegen mehr Blumen auf dem Bürgersteig. Das Opfer ist Kevin S., ein Fan des Halleschen FC. Er wurde nur 20 Jahre alt. In dem mit einer tragbaren Kamera vom Täter gefilmten Video ist zu sehen, wie er um sein Leben fleht.
Vor der Synagoge treffen unterdessen Spitzenpolitiker ein. Bundespräsident Frankwalter Steinmeier, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und Sachsen-anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) legen am Mittag weiße Rosen nieder, schütteln Max Privorozki die Hand. „Dieser Tag ist ein Tag der Scham und der Schande“, sagt Steinmeier. „Wer jetzt noch einen Funken Verständnis zeigt für Rechtsextremismus und Rassenhass, wer die Bereitschaft anderer fördert durch das Schüren von Hass; wer politisch motivierte Gewalt gegen Andersdenkende, Andersgläubige oder auch Repräsentanten demokratischer Institutionen rechtfertigt, macht sich mitschuldig.“
Auch er ist vor Ort: Israel Benami Welt, Head of Crisis Management beim Security and Crisis Centre des European Jewish Congress. Genau für eine solche Situation wie diese hier ist er ausgebildet. „Ich helfe jüdischen Gemeinden, mit antisemitischen Angriffen umzugehen“, erklärt er. „Ich bin nicht überrascht über das, was passiert ist“, sagt er. „Wir haben so etwas erwartet.“Die Situation in Deutschland sei „extrem gefährlich“für jüdische Gemeinden. Jetzt müssten alle zusammenarbeiten, fordert er: „Das ist kein jüdisches Problem, das ist ein deutsches Problem. Denn gestern waren hier in Halle fast eine Viertelmillion Menschen wie paralysiert vor Angst.“
Doch wie umgehen mit dieser Angst, besonders in der jüdischen Gemeinde? Für Christina Feist ist die Antwort klar: „Jetzt erst recht“, sagt sie. Sie werde Deutschland nicht verlassen. „Ich gehe jeden Freitag zum Beten in die Synagoge, in Halle oder Berlin, wo ich gerade bin – das werde ich auch weiterhin tun“, sagt sie entschlossen.
Geringe Polizeipräsenz fällt auch Nachbarn auf