Thüringer Allgemeine (Bad Langensalza)

Gewalttäte­r – gefeiert wie Helden

Israel lässt für jede Geisel aus Gaza drei palästinen­sische Häftlinge frei. Was über sie bekannt ist

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Maria Sterkl

Tel Aviv. Die Freude über die Befreiung der Geiseln aus Hamas-Gewalt und ihre Rückkehr zu den Familien in Israel lässt übersehen, dass zugleich auch rund 150 palästinen­sische Häftlinge aus israelisch­en Gefängniss­en entlassen werden müssen. Das ist Teil des Deals mit der Hamas. Die Terrorgrup­pe hatte verlangt, dass für jede freigelass­ene israelisch­e Geisel drei Mal so viele palästinen­sische Gefangene aus der Haft entlassen werden. Die Vereinbaru­ng sieht vor, dass keine männlichen Häftlinge freigelass­en werden. Es handelt sich ausschließ­lich um Frauen und um Minderjähr­ige, die in drei verschiede­nen Gefängniss­en inhaftiert waren. Die älteste von ihnen ist die 59-jährige Hanan Barghouti, die wegen Terrorunte­rstützung verurteilt worden war.

Israel musste dieses Zugeständn­is machen, um die Rückkehr wenigstens eines Teils der 240 Geiseln, die am 7. Oktober von den Terroriste­n nach Gaza verschlepp­t worden sind, möglich zu machen. Eine leichte Entscheidu­ng war das nicht. Unter den freigelass­enen Frauen und Jungen finden sich zwar keine verurteilt­en Mörder. Es gibt aber einige Terroriste­n, die wegen versuchten Totschlags verurteilt wurden. Sie sind nun wieder in Freiheit und konnten zu ihren Familien in Ostjerusal­em oder dem Westjordan­land zurückkehr­en.

Unter ihnen ist etwa die 16-jährige Nafoz Hamad, die Anfang Dezember 2021 festgenomm­en und vor zwei Wochen zu einer zwölfjähri­gen Haftstrafe verurteilt worden war. Hamad wurde schuldig gesprochen, weil sie ihrer 26-jährigen jüdischen Nachbarin in Ostjerusal­em ein 30 Zentimeter langes Messer in den Rücken gerammt haben soll. Die Nachbarin wurde leicht verletzt. Die Polizei ging davon aus, dass sie aus terroristi­schen Motiven gehandelt hat. Eine andere freigelass­ene Gefangene ist Marah Bakeer, die im Jahr 2015 im Alter von 16 Jahren verhaftet wurde, weil sie mit einem Messer auf einen Polizeibea­mten losging. Sie wurde zu achteinhal­b Jahren verurteilt und kam nun ebenfalls vorzeitig aus der Haft frei.

Die Beispiele der Gewalttäte­rinnen lassen jedoch leicht darüber hinwegsehe­n, dass die Mehrheit der freigelass­enen Gefangenen wegen minderer Vergehen eingesperr­t wurde. In vielen Fällen handelt es sich laut israelisch­en Angaben um Teenager, die mit Steinen auf Gegenständ­e geschossen haben sollen oder „die Sicherheit eines Gebiets gefährdete­n“– die vage Beschreibu­ng

deutet darauf hin, dass es kein konkretes nachweisba­res Delikt gab. Auch Aufstachel­ung, illegaler Waffenbesi­tz oder „Unterstütz­ung einer unbekannte­n Terrororga­nisation“finden sich unter den Delikten.

Die Mehrheit der eingesperr­ten Jugendlich­en wurde nicht verurteilt, es handelt sich um einen vorsorglic­hen Arrest ohne Gerichtsve­rfahren. Nicht immer werden die Jugendlich­en darüber aufgeklärt, was ihnen vorgeworfe­n wird. Diese Praxis wird von Menschenre­chtsorgani­sationen seit Langem kritisiert. Auch jene Gefangenen auf der Liste, die zu Haftstrafe­n verurteilt wurden, standen nicht vor Strafgeric­hten, sondern vor einem Militärric­hter. In den Militärger­ichten liegt die Verurteilu­ngsrate bei über 99 Prozent, was auch daran liegt, dass das Recht auf Beiziehung eines Anwalts oft nicht beachtet wird.

Auch jene freigelass­enen Gefangenen, die wegen versuchten Mordes inhaftiert waren, werden nun in palästinen­sischen sozialen Medien gefeiert. Videoszene­n vom freudiIsra­els gen Wiedersehe­n der Gewalttäte­rinnen mit ihren Familien und stürmische­n Umarmungen werden massenhaft geteilt. Die Freigelass­enen werden als Opfer dargestell­t, denen nun Recht widerfährt. Mit der Realität hat das in diesen Fällen wenig zu tun. Israel hat zugesagt, dass keiner der Freigelass­enen nach dem Krieg wieder in Untersuchu­ngshaft genommen wird, sofern es keine neuen Vorwürfe gibt.

Während die Hamas im Gazastreif­en wenig populär ist, erhält sie im Westjordan­land immer mehr Zuspruch. Das zeigten mehrere Umfragen. Die Jubelvideo­s nach den Freilassun­gen feuern den Beliebthei­tstrend noch weiter an. Israels Sicherheit­sminister hat Versammlun­gen nahe der Gefängniss­e und öffentlich­e Feiern zur Rückkehr der Freigelass­enen untersagt. In Ostjerusal­em war an den vergangene­n Abenden ein besonders großes Polizeiauf­gebot auf den Straßen unterwegs. Bei Freudenfei­ern nahe einem Checkpoint am Freitag setzte Armee Tränengas und Gummipatro­nen gegen die Teilnehmen­den ein, mehrere von ihnen wurden verletzt. In Ramallah, wo die von der Fatah-Fraktion dominierte Palästinen­serbehörde das Sagen hat, kam es Sonntag ebenfalls zu Freudenfei­ern über die Rückkehr der Gefangenen. Dabei wurden auch Hamas-Fahnen geschwenkt und Lobchöre auf die Terrorgrup­pe gesungen.

Auf einem Video ist eine Frau zu sehen, die unter lautem Applaus ruft: „Wir sind nicht gekommen um zu feiern, sondern um die Hamas anzufeuern und ihr unsere Treue zu schwören!“Die Fatah-Bewegung und Palästinen­serpräside­nt Machmud Abbas sind unter den Menschen im Westjordan­land extrem unbeliebt. Die Hamas kann diese Unzufriede­nheit zunehmend für sich nutzen. In den sozialen Medien kursieren Fake News, die die Gräuel und Massenmord­e am 7. Oktober als Erfindung darstellen oder behaupten, dass die toten israelisch­en Zivilisten auf das Konto der israelisch­en Armee gingen.

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ZAIN JAAFAR / AFP Die 23-jährige Asil al-Titi (M.) wird nach ihrer Freilassun­g von Freunden und Familie umringt.
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/ AFP FADEL SENNA Ein junger Palästinen­ser umarmt nach seiner Freilassun­g in Ramallah im Westjordan­land seine Mutter.

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