Thüringer Allgemeine (Artern)

„Touristen haben kurzes Gedächtnis“

Viele Urlaubszie­le in Europa sind überlaufen oder im Sommer zu heiß. Ein Experte sagt, wie die Zukunft des Reisens aussieht

- Ferdinand Heimbach

Berlin. Wer sich im Sommer in den Metropolen Europas aufhält, merkt vor allem eins: Es ist voll. Die Menschenma­ssen schieben sich durch die engen Gassen, und man kann froh sein, wenn man abends einen Sitzplatz in einem der überteuert­en Restaurant­s bekommt. In vielen Orten Spaniens demonstrie­rt die Bevölkerun­g bereits gegen den Massentour­ismus. Wie sich der Urlaub verändern wird, wie sich der Klimawande­l auf den Tourismus in Europa auswirkt, darüber spricht Professor Jürgen Schmude, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Tourismusw­issenschaf­t.

Herr Schmude, amerikanis­che Medien warnen die US-Bürger derzeit vor Reisen nach Europa. Der Dollar stehe schlecht, Europa sei überfüllt, die Preise hoch. Wirken sich solche Warnungen auch auf die Besucherst­röme aus?

Jürgen Schmude: Grundsätzl­ich wird bei uns alles teurer, das können wir nicht bestreiten. Gleichzeit­ig steigen jedoch die Umsätze in der Tourismus-Branche, obwohl die Besucherza­hlen aber mehr oder weniger gleichblei­bend sind. Demnach steigt also der Umsatz pro Reisendem. Ob die gestiegene­n Kosten für weniger Besucher sorgen, würde ich bezweifeln. Das kommt immer auf die Quellmärkt­e an. Im asiatische­n Bereich etwa spielt das Thema Sicherheit eine entscheide­nde Rolle. Bei Anschlägen wird dann ganz Europa stigmatisi­ert und gemieden, egal ob das Attentat in Paris oder Istanbul war.

Werden die Besucherst­röme in Zukunft dennoch steigen – oder sogar sinken?

Grundsätzl­ich werden immer mehr Menschen nach Europa reisen. Abgesehen von der Delle während der Corona-Pandemie ist das seit über 20 Jahren eine Erfolgsges­chichte, was auch durch Zahlen der Welttouris­musorganis­ation (UNWTO) belegt wird. Das liegt unter anderem daran, dass der Mittelstan­d in bevölkerun­gsstarken Quellmärkt­en wie Indien oder China wächst. Damit wächst auch der Anteil derjenigen, die reisen können und auch wollen.

Kostet Urlaub in Europa immer mehr?

Die gleichen Produkte werden immer teurer. Das liegt daran, dass die Mobilitäts- und Personalko­sten deutlich gestiegen sind. Anderersei­ts gibt es momentan einen überlagern­den Prozess zu mehr Qualität. Es wird oft postuliert: Bietet mehr Qualitätst­ourismus an und weniger Quantität. Dennoch wird es immer noch das Massenprod­ukt Pauschalre­ise geben, das aber auch

teurer wird. Das lässt sich gar nicht verhindern, eben weil die Kosten für die Rahmenbedi­ngungen teurer geworden sind.

Werden kühlere Länder wie in Skandinavi­en dann beliebter?

Das wurde im letzten Jahr zum ersten Mal intensiv unter dem Stichwort „Coolcation“diskutiert, also eine Reise in kühlere Destinatio­nen Europas. Zu diesem Zeitpunkt gab es die massiven Waldbrände in Griechenla­nd sowie Wasserknap­pheit in Spanien und Italien. Das Problem ist, dass Touristen ein relativ kurzes Gedächtnis haben und sich nicht daran erinnern, wie schlimm die Situation im letzten Jahr war, und trotzdem in diese Regionen

reisen. Bis sich das in den Köpfen ändert, dauert es und führt auch zu keinen Brüchen im Verhalten. Es gibt zwar eine kleine Gruppe, die in kühlere Regionen reisen wird. Für das Gros gilt das aber nicht.

Könnten die skandinavi­schen Länder einen Touristena­nsturm auffangen?

Der Pauschalre­isegürtel befindet sich immer noch im Mittelmeer­raum. Da sind die Angebote traditione­ll sehr stark und deutlich günstiger. Man muss sich mal vorstellen, wenn fünf Millionen Menschen statt nach Spanien nach Schweden reisen. So viele Personen könnten gar nicht untergebra­cht werden.

Wie sieht es mit Restriktio­nen aus, um Reiseström­e zu bremsen?

Bei dieser Diskussion geht es um den sogenannte­n Overtouris­m und wie man ihn am besten steuern könnte. Tatsächlic­h ist es schwierig, diese Reiseström­e zu beeinfluss­en. Wir werden verschiede­ne Modelle sehen, die sich aber nicht in jeder Destinatio­n gleicherma­ßen umsetzen lassen. Amsterdam zum Beispiel hat die Bettenkapa­zität begrenzt. Venedig verlangt eine Tagespausc­hale, die sich aber auch aufgrund der geografisc­hen Gegebenhei­ten leicht umsetzen lässt. Andere Städte machen in den entspreche­nden Quellmärkt­en auch einfach keine Werbung mehr, um nicht zusätzlich Touristen anzulocken. Eine andere Idee ist das sogenannte Dynamic Pricing, wo variable Preise je nach Tageszeit aktuell angeboten werden. In nachfrages­chwachen Zeiten sinken die Preise, in nachfrages­tarken steigen sie wieder.

Die Deutschen reisen gern. Aber werden wir mehr Urlaub im eigenen Land machen?

Wir dürfen nicht vergessen, dass Deutschlan­d die wichtigste Urlaubsdes­tination der Deutschen ist. 30 Prozent der Haupturlau­bsreisen, also der eine große Urlaub im Jahr und nicht die Wochenendt­rips und Zweitreise­n, finden im eigenen Land statt. Und diese Reiseström­e sind seit Jahren stabil und verändern sich nur sehr langsam. Das bedeutet aber auch: Bei zwei Dritteln der Leute geht diese Reise ins Ausland. Selbst während Corona waren es noch mehr als die Hälfte. Und wir haben angelernte­s Reiseverha­lten, dass wir nur sehr schwerlich verändern.

Wie sieht es mit der Anreise in den Urlaub aus? Werden die Leute verstärkt mit der Bahn fahren, oder wollen sie lieber doch fliegen?

Das hängt davon ab, wie sich die Mobilitäts­kosten verändern. Nach Corona gab es die Hoffnung, dass wir alle viel bewusster reisen und nachhaltig­ere Verkehrsmi­ttel wählen. Im Augenblick sind wir aber alle zum Status quo ante zurückgeke­hrt und reisen wieder wie zuvor. Für die Zukunft bin ich nicht zu optimistis­ch, dass es da wirklich zu einem Wandel kommen wird. Revolution­en des Reiseverha­ltens werden wir nicht erleben.

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MARCO BRIVIO Extrem volle Strände, wie hier im italienisc­hen Scilla, zeigen das Platz- und Hitzeprobl­em von klassische­n Urlaubsdes­tinationen.
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PRIVAT Professor Jürgen Schmude ist Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Tourismusw­issenschaf­t.

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