Verfassungsgericht prüft doch nicht die Zulässigkeit des Volksbegehrens
Von dem Verfahren erhoffte sich die Politik Klarheit für künftige Initiativen. Richter Walter Bayer mit Sondervotum
Erfurt. Die Lage der direkten Demokratie in Thüringen bleibt unübersichtlich. Das Landesverfassungsgericht in Weimar teilte gestern mit, dass es „das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit des Volksbegehrens ‚Selbstverwaltung für Thüringen‘ eingestellt“habe.
Damit bleibt die hypothetische Frage ungeklärt, ob die Initiative, die sich gegen die Gebietsreform richtete, mit der Verfassung unvereinbar war – genauso wie die Frage, ob und wie stark Begehren in die finanziellen Angelegenheiten des Landes eingreifen dürfen.
Um diese komplizierte Geschichte zu verstehen, sollte man sie von Anfang an erzählen. Als im Sommer 2016 das Vorschaltgesetz zur Gebietsreform in Kraft trat, begann der Verein „Selbstverwaltung“Unterschriften für ein Volksbegehren zusammen. Das Ziel: Das Gesetz – und damit die gesamte Reform – sollte gekippt werden.
Um erst einmal die Zulassung zu erreichen, musste der Verein 5000 Unterschriften sammeln. Es kamen mehr als 40 000 zusammen, die vom Landtagspräsidenten Christian Carius (CDU) geprüft und für in Ordnung befunden wurden.
Das brachte die rot-rot-grüne Koalition, deren Mitglieder stets für direkte Demokratie gestritten hatten, in ein Dilemma. Doch die Reform war ihnen wichtiger: Die Regierung reichte Verfassungsklage gegen das Begehren an, da es den sogenannten Finanzvorbehalt verletze.
Tatsächlich verbietet Artikel 82 der Verfassung Volksinitiativen „zum Landeshaushalt“–ein Passus, der bisher vom Thüringer Gericht eng ausgelegt wurde. Rot-Rot-Grün argumentierte, dass die 155 Millionen Euro, die per Vorschaltgesetz für die freiwilligen Gemeindefusionen bereit gestellt wurden, quasi eine vorweggenommene Entscheidung zum Haushalt war. Da sich das Begehren gegen die Reform richte, sei automatisch das Etatrecht des Parlaments betroffen.
Die Verhandlung darüber hatte das Verfassungsgericht für den 14. Juni angesetzt. Doch schon einige Tage zuvor, am 9. Juni, entschied es über eine Klage, welche die CDU-Landtagsfraktion gegen das Vorschaltgesetz eingereicht hatte. Und siehe: Die Richter erklärten das Gesetz aus formellen Gründen für nichtig.
Die logische Folge: Die blamierte Landesregierung zog ihre Klage gegen das Volksbegehren zurück. Und auch der Verein erklärte sein Vorhaben für beendet – zumindest vorerst. Gleichzeitig kündigte er an, beim nächsten Reformversuch wieder klagen zu wollen.
Und so kam es am 14. Juni zu einer denkwürdigen Verhandlung in Weimar. Einen halben Tag lang sinnierten die Richter öffentlich darüber nach, ob sie vielleicht doch über eine gar nicht mehr existierende Klage gegen ein nicht mehr existierendes Volksbegehren entscheiden sollten. Dies, sagten sie, wäre dann möglich, wenn ein besonders starkes Interesse an einer rechtlichen Klärung bestehe.
Die Regierung und auch die Vertreter des Volksbegehrens bekundeten jedenfalls dieses Interesse. Und auch im Rest des landespolitischen Betriebs wartete man gespannt darauf, wie das Gericht den Haushaltsvorbehalt interpretieren würde. Streng wie bisher? Oder liberaler, wie in anderen Bundesländern?
Nachdem die Richter über den Sommer nachgedacht hatten, verneinten sie gestern ein besonderes öffentliches Interesse. Der Einstellungsbeschluss erging mit 6:3 Richterstimmen.
Richter Walter Bayer, in diesem Verfahren der Berichterstatter, bedauerte in einem Sondervotum den Mehrheitsbeschluss. Er selbst habe das Volksbegehren für verfassungskonform gehalten.