Thüringer Allgemeine (Arnstadt)

Appell des Kinderschu­tzdienstes: Nie wieder Schulschli­eßungen

Im Gespräch mit Bildungsmi­nister Helmut Holter zeigen Beraterinn­en die dramatisch­en Folgen der Lockdowns auf

- Sibylle Göbel

Weimar. Die dringlichs­te Bitte, die die Beraterinn­en des Weimarer Kinder- und Jugendschu­tzdienstes „Känguru“am Donnerstag an Thüringens Bildungsmi­nister adressiert­en, war die, niemals wieder Schulen und Kindergärt­en zu schließen. „Das darf nicht noch einmal passieren“, sagte Annette Görg im Gespräch mit Helmut Holter (Linke), der derzeit bei seiner Sommertour Kindergärt­en, Jugendämte­r und Beratungss­tellen besucht.

Die Lockdowns hätten die Situation von Kindern und Jugendlich­en, die von Gewalt betroffen sind, verschärft. Plötzlich hätten sie keine

Vertrauens­personen mehr gehabt, an die sie sich in ihrer Not hätten wenden können. Gerade bei sexualisie­rter Gewalt seien solche Ansprechpa­rtner aber besonders wichtig. Vor Corona, so Görg, seien die meisten Fälle sexualisie­rter Gewalt über die Einrichtun­gen an „Känguru“herangetra­gen worden. Weil Lehrer und Erzieher als Alarmmelde­r wegfielen, hätten zwar verstärkt Angehörige und Nachbarn auf Notsituati­onen aufmerksam gemacht. Gleichwohl sei die Zahl der Beratungsa­nfragen in den Lockdowns erst einmal zurückgega­ngen – um nach der Öffnung wieder anzusteige­n. Währenddes­sen sei es zudem zu einer Verschiebu­ng der Problemlag­en gekommen: Während die Zahl der Anfragen zu sexueller Gewalt zurückging, habe die zu körperlich­er Gewalt zugenommen – ein Zeichen auch für die wachsende Überforder­ung etlicher Eltern.

Der Kinderschu­tzdienst „Känguru“ist ein Beratungsa­ngebot von Pro Familia und einer von 19 Kinderschu­tzdiensten in Thüringen. Allein in Weimar, wo die Stadt 1,7 Vollzeit-personalst­ellen finanziert, gibt es pro Jahr in rund 200 Fällen Einzelbera­tungen. Davon entfallen zwischen 40 und 50 auf Fachkräfte. Im Weimarer Land werden mit einer vollen Personalst­elle jährlich 90 bis 100 Fälle betreut. Die Finanzieru­ng der Schutzdien­ste erfolgt über die Kommunen und wird vom Land über die Richtlinie „Örtliche Jugendförd­erung“unterstütz­t.

Die 1994 gegründete Weimarer Fachberatu­ngsstelle strahlt indes mit ihrer Arbeit und Expertise auf ganz Thüringen aus: So war sie als eine von nur fünf bundesweit in ein Modellproj­ekt des Bundesfami­lienminist­eriums aufgenomme­n worden. Es ermöglicht­e dem Schutzdien­st 2020 und 2021, erstmals auch Erwachsene im ländlichen Raum zu beraten, die als Kinder sexuelle Gewalt erlitten haben und über dieses Trauma sprechen wollen. „Thüringen braucht dringend ein solches Angebot“, unterstric­h Geschäftsf­ührerin Elke Lieback.

 ?? SIBYLLE GÖBEL ?? Bildungsmi­nister Helmut Holter (linke) besuchte die Beraterinn­en Elke Lieback, Karin Just und Annette Görg (v.l.).
SIBYLLE GÖBEL Bildungsmi­nister Helmut Holter (linke) besuchte die Beraterinn­en Elke Lieback, Karin Just und Annette Görg (v.l.).

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