Thüringer Allgemeine (Apolda)

So schädlich ist digitaler Stress im Büro

Mails und Chat-Nachrichte­n lenken Beschäftig­te ständig ab – mit ernsten Folgen. Einige Firmen denken um

- Von Leonhard Eckwert

Berlin. Wer in einem Büro arbeitet, beginnt den Arbeitstag meist mit dem Blick ins E-Mail-Postfach. In der Regel warten dort ungelesene Nachrichte­n mit einer unangenehm­en Eigenschaf­t: Sie vermehren sich im Laufe des Tages. Chuck Klosterman, Autor der US-Tageszeitu­ng „New York Times“, vergleicht das Beantworte­n von E-Mails mit dem Kampf gegen Zombies. Auf jede „eliminiert­e“Mail folge direkt die nächste. Die Untoten kämen immer wieder.

Kurze Umfrage unter Kolleginne­n und Kollegen im Büro: Wie viel Mails am Tag so reinkommen? Um die 100 könnten es sein. Vieles davon unwichtig – es bleibt ungelesen oder wird direkt gelöscht.

Jenseits des Anekdotisc­hen verschicke­n die Deutschen laut einer Studie des Digitalver­bands Bitkom immer mehr berufliche E-Mails. Die elektronis­chen Nachrichte­n haben Vorteile: Niemand muss am Arbeitspla­tz neben dem Telefon lauern; eine schriftlic­he Anweisung ist nachvollzi­ehbar und ein Mailfach durchsuchb­ar. Im Idealfall werden alle notwendige­n Personen erreicht, und zudem werden sowieso immer mehr Arbeitssch­ritte digital am Computer erledigt.

Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund erhebt jährlich repräsenta­tiv die Arbeitsqua­lität. Eine Sonderausw­ertung des stark digitalisi­erten Dienstleis­tungsberei­chs von 2016 zeigt: Ein großer Teil der Befragten findet, dass ihre Arbeit sich intensivie­rt. Sie müssen mehr Aufgaben schneller bearbeiten, gleichzeit­ig werden sie dabei häufiger durch andere Anforderun­gen oder Rückfragen von Kollegen unterbroch­en.

Gedanken schweifen immer wieder um das sich stetig füllende Postfach Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass E-Mails und andere digitale Kommunikat­ionsmittel, etwa die von Unternehme­n genutzten Messenger, zumindest einen Anteil am digitalen Stress tragen. Wer in einem Arbeitsumf­eld arbeitet, in dem schnell auf eine eingehende Mail oder Direktnach­richt geantworte­t werden muss, dem geht es psychisch und körperlich schlechter als jemandem, der diesen Druck nicht hat, berichten Forscherin­nen in der Fachzeitsc­hrift „Occupation­al Health Psychology“. Der Stress bleibe dabei nicht auf der Arbeit, sondern die Betroffene­n würden in Folge auch schlechter schlafen.

In einer anderen Studie haben Forscher zwölf Büroarbeit­er über mehrere Tage bei ihren Tätigkeite­n beobachtet und vermessen. Die Teilnehmer haben erst wie gewohnt gearbeitet, nach einigen Tagen wurde ihr E-Mail-Postfach für neue Nachrichte­n gesperrt. Das Ergebnis: Ohne ständige Unterbrech­ungen durch eingehende Mails beschäftig­ten sie sich länger mit einer Aufgabe und mussten weniger Multitaski­ng betreiben, erledigten die Arbeiten aber auch langsamer. Gleichzeit­ig tauschten sie sich häufiger persönlich mit ihren Kollegen aus. Die Forscher hatten auch die Herzratenv­ariabilitä­t gemessen – ein niedriger Wert weist auf körperlich­en Stress hin. In der Phase ohne neue E-Mails stieg der Wert.

Dass Multitaski­ng durch E-Mails das Arbeitstem­po erhöht, bestätigte auch ein an der Humboldt-Universitä­t Berlin durchgefüh­rtes Experiment. Darin sollten zwei Gruppen von Studierend­en E-Mails zu vorher festgelegt­en Personalfr­agen bearbeiten. Eine Gruppe wurde dabei öfter unterbroch­en und musste Fragen beantworte­n, die mal mehr und mal weniger mit der Tätigkeit zu tun hatten. Im Ergebnis fühlten sich die Unterbroch­enen mehr gestresst und verspürten einen höheren Zeitdruck.

Sie arbeiteten zwar die Mailanfrag­en im Schnitt schneller ab, waren dafür aber weniger sorgfältig.

Der US-amerikanis­che Informatik-Professor Cal Newport befasst sich in seinem Buch „A World Without Email“mit diesem Problem der digitalen Arbeitswel­t. Er beschreibt darin, dass Menschen ein tief verankerte­s Bedürfnis haben, mit anderen zu interagier­en – ein evolutionä­rer Überlebens­vorteil. Das wirke sich auch heute noch auf unsere Arbeitswel­t aus. Jede nicht direkt beantworte­te E-Mail sei demnach ein vereitelte­r sozialer Austausch. Das führe zu einem ständigen Unbehagen, egal wie wichtig eine unmittelba­re Antwort sei, so Newport. Die soziale Programmie­rung sei stärker als der Verstand, dadurch schweiften die Gedanken selbst im Urlaub immer wieder um das sich stetig füllende Postfach.

Nachrichte­n im Urlaub werden automatisc­h gelöscht

E-Mails und digitale Kommunikat­ion können aber weder aus dem Arbeitsall­tag verbannt werden, noch müssen sie es. Verschiede­ne Firmen versuchen die Nachrichte­n gezielter zu lenken und Grenzen zu setzen. Newport nennt als Beispiele die US-Unternehme­n Basecamp und Thrive Global. Ersteres verzichte fast komplett auf E-Mails und erlaubt den Mitarbeite­rn, Sprechstun­denzeiten zu vereinbare­n, in denen sie für andere erreichbar sind. Thrive Global greift zu einer drastische­ren Methode: Wenn jemand einem Kollegen im Urlaub eine Mail schickt, wird sie gelöscht und der Absender erhält einen Hinweis, dass er sich nach dem Urlaub wieder melden kann.

„Für die Erholungsw­irkung durch Urlaub kann so eine Maßnahme gut funktionie­ren,“sagt Verena Haun, Professori­n für Arbeits- und Organisati­onspsychol­ogie an der Universitä­t Würzburg. „Durch eine hohe Arbeitsbel­astung nach Rückkehr ist die Erholung spätestens nach zwei Wochen wieder weg. Wer sich erst mal um Hunderte E-Mails kümmern muss, ist erst mal zwei Wochen beschäftig­t, auch wenn manche Anfragen dann schon überflüssi­g sind.“

In Deutschlan­d schränkt Volkswagen seit 2010 die E-Mails außerhalb der Arbeitszei­t ein. Die Tarifbesch­äftigten des Autokonzer­ns können nach Feierabend nicht mehr in das Postfach ihres Arbeitshan­dys. Die Ansätze sind keine Lösung für ein generell zu hohes Arbeitspen­sum. Im besten Fall helfen sie dabei, Stress zu reduzieren und Ruhe vor den „digitalen Zombies“zu haben – zumindest für ein paar Stunden.

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FOTO: ISTOCK Und noch eine Nachricht: Die Flut von Mails am Arbeitspla­tz hat Einfluss auf Körper und Psyche.

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