Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Endstation Traurigkeit
Der Independent-Film „Home“ist Franka Potentes gefühlvolles Regiedebüt.
(dpa) Eine endlose Straße, menschenleer – bis auf einen einsamen Skateboarder mit roten Haaren und vielen Tattoos. Marvin geht auf die 40 zu. In rund 100 Minuten erfährt der Zuschauer mehr über seine Vergangenheit, über seine Gegenwart. Aber hat er auch eine Zukunft? „Lost Time“, verlorene Zeit, steht auf seinen tätowierten Fingern und „Destroy“, zerstören, auf seiner Brust.
Es ist das Amerika der Abgehängten, der Verlorenen und Vergessenen, das die deutsche Schauspielerin Franka Potente für ihr Langfilm-Debüt als Schauplatz gewählt hat. Trostlose Diner, öde Tankstellen, riesige Supermärkte, Drogen-Spots unter Highway-Brücken, heruntergekommene Häuser: eine Welt der zerbrochenen Träume. „Außer Pizzafalten habe ich nichts zu bieten“, sagt der drogensüchtige Wade (Derek Richardson), der im verdreckten Wohnmobil haust und seine Zukunft längst hinter sich hat.
In diese Welt kehrt Marvin (Jake McLaughlin) zurück, nachdem er lange im Gefängnis gesessen hat. Trotz allem ist es sein Zuhause, auch wenn ihn eigentlich niemand hier wieder haben will. Selbst seine schwer kranke Mutter (Kathy Bates) sagt: „Das ist nicht mein Marvin.“
Mit langen Einstellungen, die in ihrer Ästhetik an Wim Wenders erinnern, sehr kunstvoll arrangierten Tableaus und einem fast dokumentarischen Blick erzählt die 46 Jahre alte Potente in ihrem Independent-Film sehr entschleunigt eine nahezu biblische Geschichte von Schuld, Sühne und Vergebung, in der bei vielen Menschen wahre Gefühle und Mitgefühl verloren gegangen sind. Wie kaputt mag wohl ein Mensch sein, der nicht einmal mehr Schmerz verspürt? So philosophiert Marvins Schulfreund Wade.
Und doch gibt es kurze Momente, die ein wenig nach Glück aussehen – wenn Marvin und Wade zur Musik der deutschen Band Donots tanzend herumspringen. Eine Erinnerung an früher, als noch alles möglich schien, als das Skateboardfahren Freiheit und Ungebundensein verhieß. „Dead Man Walking“und „Stop The Clocks“heißen bezeichnenderweise die Songs.
Vornehmlich ist es eine große Traurigkeit, die sich durch den Film zieht, der erst nach und nach das ganze Drama offenbart. Es wird sehr lange dauern, bis Marvin endlich sagen kann: „Heute war ein guter Tag.“Hier bekommt ein Mensch eine zweite Chance, nachdem er einst große Schuld auf sich geladen hatte. Die Widerstände sind enorm.
„Home“wird nicht der letzte Film von Franka Potente als Regisseurin sein. Mit ihrem verheißungsvollen Debüt, in dem große Fragen in außerordentlich subtilen Bildern abgehandelt werden, setzt sie ein erstes starkes Ausrufezeichen. Auch bei der Wahl der Schauspieler bewies Potente ein gutes Gespür. Neben Oscar-Preisträgerin Kathy Bates („Misery“) und Hauptdarsteller Jake McLaughlin begeistert vor allem Aisling Franciosi, die die unterschiedlichsten Gefühle menschlichen Seins auf die Leinwand bringt.
Info „Home“, Deutschland/Niederlande 2020, 100 Minuten, FSK 12.