Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Vor 2030 geht es nicht
Bei der Nachbesserung des Klimaschutzgesetzes knöpft sich die Regierung erneut den Energiesektor vor. Doch mindestens drei technische und ein sozialer Grund stehen einem Ausstieg aus der Kohleverstromung vor 2030 entgegen.
Die Verfassungsrichter haben die Bundesregierung nachsitzen lassen. Das Klimaschutzgesetz, das die Koalition 2019 vorgelegt hat, regele die Zeit nach 2030 nicht klar und verschiebe zu viele Lasten auf künftige Generationen, so die Kritik der Richter. An diesem Mittwoch will das Bundeskabinett eine Neufassung des Gesetzes beschließen. Reicht das und ist das realistisch?
Das Ziel ist klar: Deutschland will das Pariser Klimaschutzabkommen erfüllen, in dem sich die Staaten verpflichtet haben, die Erwärmung der Erde im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. So soll verhindert werden, dass Polkappen schmelzen, Meeresspiegel weiter ansteigen, Naturkatastrophen und Dürren zunehmen. Dazu sollen die Staaten ihren Ausstoß an Treibhausgasen, allen voran CO2, senken.
Auf dem Papier sieht die Nachbesserung von Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) ganz ordentlich aus: Der Gesetzentwurf schreibt nun Minderungsziele ab
2031 vor und legt fest, dass der Ausstoß an Treibhausgasen bis 2030 um
65 Prozent gegenüber 1990 sinken soll. Zuvor lag das Einsparziel bei
55 Prozent. Zudem soll die Klimaneutralität schon 2045 statt 2050 erreicht werden. Doch anstatt nun die Bereiche Wohnen und Verkehr zu deutlich mehr Klimaschutz zu zwingen, knöpft sich Schulze erneut den Energiesektor vor. Umweltverbände wie der BUND fordern, den Kohleausstieg auf einen Zeitpunkt vor 2030 vorzuziehen. Ist das möglich? Die Antwort: Nein, das ist aus dreieinhalb Gründen unrealistisch.
Erstens: Deutschland hinkt beim Ausbau seiner Stromnetze dramatisch hinterher. Der aber ist nötig, um die großen Mengen an Windstrom von Nord- und Ostsee in die Industriezentren des Südens zu bringen. Bis 2030 brauchen wir
7600 Kilometer an neuen Leitungen. 2020 sollte das Etappenziel von 5000 Kilometern erreicht sein. Tatsächlich aber sind erst 900 Kilometer geschafft. Deshalb kann Baden-Württemberg auch weiter keine Kohlekraftwerke abschalten – ausgerechnet im grün-schwarz regierten Land wird munter Kohle verfeuert. Auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) umarmt neuerdings Bäume. Doch selbst im Freistaat stemmt man sich gegen Stromautobahnen.
Zweitens: Auch beim Ökostromausbau hinkt Deutschland hinterher. Das hat die Bundesregierung vom Bundesrechnungshof unlängst schriftlich bekommen: Man könne nicht davon ausgehen, dass die Ausbauziele für erneuerbare Energien unter den schwierigen Akzeptanzbedingungen, insbesondere für Windenergieprojekte, erreicht werden, so die Prüfer. Wenn aber nicht genug Windräder und Solarparks gebaut werden, die den Wegfall an Kohlestrom ausgleichen, bekommt Deutschland ein Problem mit der Versorgungssicherheit. Zumal 2022 auch die letzten Atomkraftwerke vom Netz gehen, die zwar kein Problem für das Klima, aber seit Fukushima politisch unerwünscht sind. Und auch gegen Gaskraftwerke, die eine Alternative zu Kohlekraftwerken sein könnten, formiert sich Widerstand: Diese sind zwar mit weit weniger CO2-Ausstoß verbunden, doch solange kein grün hergestelltes Gas, sondern Methan verfeuert wird, kommt der Treibhauseffekt auf anderem Wege.
Drittens: Die Bundesregierung unterschätzt den steigenden Strombedarf. Der Ökostrom muss nicht nur den Wegfall des Kohlestroms ausgleichen, sondern auch einen wachsenden Strombedarf decken. Der erwünschte Boom an Elektroautos treibt den Strombedarf ebenso in die Höhe wie die erwünschte Umstellung der Industrie – insbesondere der Stahlbranche – auf Wasserstoff. Um aus Wasser grünen Wasserstoff herzustellen, braucht man gewaltige Mengen an Ökostrom für die Elektrolyse. Und es sind nicht Stromkonzerne, die aus womöglich eigennützigen Motiven vor einer Stromlücke und einem Blackout warnen, sondern die Rechnungsprüfer: Die Annahmen des Bundeswirtschaftsministers seien „teils zu optimistisch und teils unplausibel“, kritisieren sie. Die Regierung habe die realen Gefahren für die Versorgungssicherheit nicht genug im Blick. Als gesellschaftliches Problem kommt viertens hinzu, wie man den Sozialausgleich beim Umbau auf den Ökostrom organisiert. Denn die schnellere Abschaltung der Kohlekraftwerke soll über steigende CO2-Preise finanziert werden. Die aber werden die Stromerzeuger auf Strom- und Heizkunden umlegen, die Mineralölkonzerne auf die Autofahrer. Klimaschutz wird da schnell zum Luxusgut. Die SPD will bei der Gebäudesanierung nun die Vermieter zur Kasse bitten. Die Wirtschaftsweisen fordern ein Ende der Ökostromumlage. Mal eben raus aus dem Kohlestrom – in jeder Hinsicht eine Illusion.