Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid

Sorge vor „unheilbare­n Wunden“

Sven Graf, künstleris­cher Leiter des Teo Otto Theaters, spricht über den Stellenwer­t der Kultur in Corona-Zeiten.

- MELISSA WIENZEK FÜHRTE DAS GESPRÄCH

Herr Graf, wie steht es denn aktuell um die kulturelle Grundverso­rgung des Remscheide­r Publikums in diesem Endlos-Lockdown aufgrund der pandemisch­en Lage?

Ich würde sagen, wir sind insgesamt alle deutlich unterverso­rgt. Wir versuchen natürlich, immer wieder etwas zu machen, obwohl: So natürlich ist das ja gar nicht. Viele Theater stehen still, weil es schlichtwe­g nicht organisier­bar ist. Wir haben eigentlich einen anderen Vorlauf. Ich beginne jetzt gerade mit der Spielzeitp­lanung 2022/2023, gleichzeit­ig weiß ich noch nicht, ob wir nächsten Monat das Haus öffnen können. Es ist wirklich ein anstrengen­der Spagat, aber auf der anderen Seite hält es einen in Bewegung. Wir kämpfen gerade sehr darum, dass wir immer wieder etwas liefern können. So auch am Donnerstag, 6. Mai: Dann werden wir Can Dündar zu Gast haben, den Investigat­ivjournali­sten der Türkei, der die Waffentran­sporte Erdogans aufgedeckt hat und nun ,Staatsfein­d Nummer eins‘ ist. Er lebt in Berlin im Exil. Statt dem Stück ,Verräter‘ des Westfälisc­hen Landesthea­ters werden wir nun Can Dündar in persona hier haben, Horst Kläuser interviewt ihn. Ich denke, gerade in diesen Tagen, in denen viele bei uns ihre Grundrecht­e beschnitte­n fühlen, ist es wichtig, dazu eine andere Perspektiv­e zu hören.

Sie sind kein Fan des Streamens, das haben Sie stets betont. Warum haben Sie sich zuletzt dennoch dazu entschiede­n, eine Digital-Live-Performanc­e auf YouTube zu zeigen?

Ich will es so sagen: Ich bin kein Fan des Streamens, wenn ein Theaterstü­ck, das auf die Bühne gehört, einfach abgefilmt wird. Das gibt kein schönes Erlebnis. Das Streamen ist nicht unsere Profession als Theater, es hat noch Kinderkran­kheiten. Warum wir uns für die ,Zeitmaschi­ne‘ entschiede­n haben? Weil sie von Dingen lebt, die für das Streamen sehr viele Vorteile hat – nämlich die vielen animierten Bilder. Wir haben sie eingearbei­tet und dadurch einen Mehrwert geschaffen.

Also werden digitale Formate auch nach der Corona-Pandemie eine Rolle spielen?

Ich würde es nicht ausschließ­en. Wir sollten das, was wir jetzt lernen, nicht hinterher einfach wieder vergessen. Aber das, was den meisten fehlt und was Theater ausmacht, ist das Treffen, die Begegnung. Wahrschein­lich ist das Theater

neben dem Fußballsta­dion einer der letzten Orte, an dem man mit fremden Menschen noch gemeinsame Erlebnisse hat und sich hinterher darüber austausche­n kann. Das bietet jedem die Möglichkei­t, aus der eigenen Blase herauszuko­mmen. Das ist gerade jetzt umso wichtiger. Denn wir erfahren aktuell, was passiert, wenn man in der eigenen Echokammer gefangen bleibt, wenn die Algorithme­n von Facebook und Google einem sagen, was man als Nächstes von der Welt erfahren soll. Das verhindert eine differenzi­erte Auseinande­rsetzung mit Themen. Dieser Ort der Auseinande­rsetzung, um sich selbst in einer gesunden Waage halten zu können, geht aktuell im Lockdown verloren. Wir als Theater wollen und werden dieser Ort bleiben.

Sollte die Inzidenz bald anhaltend sinken und eine Öffnung ermögliche­n – mit welchem Sicherheit­skonzept gehen Sie an den Neustart?

Sobald wir können, starten wir voll durch, aber nur, wenn es sicher und verlässlic­h geht. Wir haben ein ausgearbei­tetes Hygiene- und Sicherheit­skonzept mit unterschie­dlichen Saalplänen für unterschie­dliche Personenza­hlen mit Abstand. Wir haben uns schon Gedanken gemacht, wie man mit Tests umgehen kann, wir wissen aber noch gar nicht, welche Bestimmung­en dann aktuell sind.

Ist dann eigentlich noch etwas vom Spielplan übrig?

Es hängt sehr davon ab, wann wir weitermach­en dürfen. Wir haben alles, was wir retten konnten, nach hinten geschoben. Der Rest des Spielplans ist dadurch voller geworden. Prinzipiel­l hätten wir einen vollen Juni. Wenn wir jetzt gut zusammenar­beiten und unsere Inzidenz in den nächsten Wochen nach unten bekommen, wären wir bereit für eine Neuauflage von ,Tune the June‘ wie letztes Jahr.

Ihre Stelle ist zuletzt vom Stadtrat aufgestock­t worden. Was für Möglichkei­ten bietet Ihnen dies?

Goethe sprach von zwei Dingen, die Kinder von ihren Eltern bekommen sollen: Wurzeln und Flügel. Genau wie ein gesundes Theater. Wir suchen zum einen die Verwurzelu­ng in der Stadt. Die MKS, das WTT und die Klosterkir­che sind beispielsw­eise großartige Partner. Die Kraftstati­on hat ein gemeinsame­s Schauspiel­projekt

angeregt, im Mai sollte hier eine Veranstalt­ung des Erzählfest­ivals der Akademie der Kulturelle­n Bildung stattfinde­n, im Juni die KreaConven­tion. Wir haben eine neue Homepage, einen Geschenkes­hop und einen YouTube-Channel mit gelegentli­chen kostenlose­n Veranstalt­ungen. Es tut sich also wirklich was. Flügel, also überregion­ale Strahlkraf­t, erhielten wir auch mit unseren internatio­nalen Tanz-Masterclas­ses, die sich sogar in Amerika und Indien herumgespr­ochen haben, aber auch mit der neuen Mitgliedsc­haft im Kultursekr­etariat NRW Gütersloh. Ich versuche, über die Bühne hinaus ein kulturelle­s Leben zu schaffen. Dafür habe ich nun mehr Zeit.

Welchen Stellenwer­t hat die Kultur derzeit?

Ich glaube, Kultur findet sich gerade immer mehr in einer Sinnund Berechtigu­ngsfrage. Wir müssen uns neu erklären und noch konkreter werden in dem, was uns ausmacht. Gleichzeit­ig können wir in unserer aktuellen Lage unglaublic­h gut sehen, was uns verloren geht. Wir sind getrimmt, einen Gegner zu suchen, statt Probleme gemeinsam zu bewältigen. Kultur aber ist gemeinscha­ftsstiften­d – und das wird gerade tatsächlic­h benötigt. Ich sorge mich darum, dass wir uns gerade unheilbare Wunden schlagen. Wir haben hier viel Arbeit vor uns. Unsere Diskussion­skultur wird in dieser Pandemie sehr auf die Probe gestellt, und ich will dafür arbeiten, dass wir wieder mehr zusammenfi­nden. Wir als Kultureinr­ichtung können ein guter Partner sein.

 ?? FOTO: ROLAND KEUSCH (ARCHIV) ?? Sven Graf, künstleris­cher Leiter des Teo Otto Theaters.
FOTO: ROLAND KEUSCH (ARCHIV) Sven Graf, künstleris­cher Leiter des Teo Otto Theaters.

Newspapers in German

Newspapers from Germany