Solinger Bergische Morgenpost/Remscheid
Baustelle Bundestag
Übergröße, Bürokratie und Korruptionsvorwürfe schaden seinem Ansehen.
Die Monate vor einer Bundestagswahl sind keine Hochzeit für Parlamente. Die Parteien werden wichtiger, es geht um ihre Personen und Programme. Wenn sich Abgeordnete profilieren wollen, schaffen sie das eher durch Medienauftritte oder Initiativen zu Hause als durch die Arbeit im Bundestag. Schließlich sind Fraktionen, im Bundestag wie auf Landesebene, vor allem Gesetzgebungsinstanzen. Gegen Ende jeder Legislaturperiode nimmt normalerweise die Zahl der Gesetze ab. Die Angeordneten schwärmen aus, auf analoge oder auch digitale Plätze, um für ihre Ideen zu streiten. In diesem Jahr jedoch ist das Interesse an Abgeordneten groß wie nie. Korruptionsaffären werfen Fragen nach der Integrität und Kompetenz der Volksvertreter auf. Neue Initiativen werben dafür, dass die Zusammensetzung des nächsten Parlaments diverser und die Fraktionen offener für Quereinsteiger werden, etwa „Join Politics“und „Brand New Bundestag“. Und dann gewinnen einige Fraktionen auch bei anderen Themen mehr Gewicht: Die Pandemiebekämpfung war lange eine Sache der Exekutive, doch nun wurde beschlossen, dass mehr Entscheidungsmacht in den Bundestag verlagert wird. Die Spitze der Unionsfraktion redete maßgeblich beim Ringen um den nächsten Unionskanzlerkandidaten mit. Was fehlt, sind Abgeordnete, die diese Lage nutzen, um von sich aus Reformen für den Bundestag oder Landtage anzustoßen. So hat Deutschland eines der größten Parlamente der Welt, was zu viel Ineffizienz und weniger Akzeptanz beim Bürger führt, weil der Einzelne nicht viel entscheiden kann. Doch die lange debattierte Wahlrechtsreform führte zu einem lächerlichen Ergebnis: Die Zahl der Sitze wird minimal reduziert. Auch bei der Verständlichkeit von Gesetzestexten, der Vereinbarkeit von Familie und Mandat sowie der Transparenz von Nebeneinkünften ist noch viel zu tun. Ein Lobbyregister ist nicht genug. Die Parlamentarier, die im Wahlkampf von Reformen sprechen, sollten ihre eigene Wirkungsstätte nicht übersehen.
Unsere Autorin ist Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung in Berlin. Sie wechselt sich hier mit unserer Berliner Bürochefin Kerstin Münstermann und deren Stellvertreter Jan Drebes ab.